zwischen.zeilen

Neulich traf ich S., eine Kollegin aus alten Zeitungszeiten, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Neben Berichten über Gemeinderatssitzungen und andere Ereignisse von lokaler und regionaler Bedeutung verfassten S. und ein paar von uns anderen seinerzeit auch Buchbesprechungen für die regelmäßig erscheinende Literaturseite der Zeitung. S.` Liebe zur Literatur war groß, die Liebe des jungen K. zu S. nicht minder. So lag es irgendwie nahe, dass K. mit einem besonders gewichtigen Buchgeschenk das Herz von S. zu gewinnen trachtete: Zettel’s Traum von Arno Schmidt. S. war gerührt, die etwas prosaischeren Naturen unter uns konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der Trumm mit seinen 1300 Seiten im DIN-A3-Format und zehn Kilo Lebendgewicht, eine Reproduktion von Schmidts Schreibmaschinen-Skript mit handschriftlichen Korrekturen und Einfügungen, mit unorthodoxer Zeichensetzung und der Abkehr von allem, was man an Rechtschreibregeln so kannte, versprach nicht gerade überbordendes Lesevergnügen. Selbst der Suhrkamp Verlag räumt auf seiner Website im Grunde ein, „dass Zettel’s Traum ein unlesbares Buch sei. Trotzdem (oder gerade deswegen) wurde es bald ein Kultbuch und verkaufte sich in fünfzig Jahren etwa 25.000 Mal. Wie viele dieser Exemplare tatsächlich gelesen worden sind, weiß freilich niemand.“

Eines der 25.000 Exemplare befindet sich im Besitz von S., die mir jetzt, beinah vier Jahrzehnte später, verriet, dass auch sie über die erste Seite des Schwergewichts nie hinausgekommen sei – nachdem sie Stunden mit K. und Arno Schmidt und einem Haufen Sekundärliteratur auf dem Boden des weihnachtlich geschmückten Wohnzimmers verbracht hatte. Die Liebe zu den vielen Büchern, so erklärte sie, sei einfach zu groß gewesen, um sich ein Jahr oder womöglich noch länger auf nur eines zu beschränken. S. stammt aus einem sogenannten bildungsfernen Elternhaus. Die Literatur hat sie erst verhältnismäßig spät für sich entdeckt. Entliebt hat sie sich nie mehr, übrigens auch nicht von K., aber das ist eine andere Geschichte.

In Büchern kann man Menschen begegnen, die man im wirklichen Leben nie treffen würde. Man kann Geschichten erleben, die so nie passieren würden. Man kann total ausgedachtes Zeug lesen, in dem doch die tiefste Wahrheit steckt. Diese Heimat glaubte ich, anders als S., für mich bereits verloren. Vorbei schien die Gewissheit, dass da eine nie versiegende Quelle ist, die nur darauf wartet, dass ich sie anzapfe, um für eine kleine Weile herauszutreten aus der Begrenztheit der eigenen Erfahrungen und Erlebnisse. Die freigiebig so ziemlich alles zwischen Inspiration und Irritation schenkt, dazu Vergnügen und Trost und noch eine ganze Menge mehr. Jahrzehntelang hatte das funktioniert, mal mehr, mal weniger gut. Natürlich habe ich auch während der Pandemie gelesen. Berge von Zeitungen vor allem. Auch das eine und andere Sachbuch. Aber Romane? Erzählungen? Gedichte? Nicht der Rede wert. Im Wortsinn: es stockte ja nicht nur die Lektüre, auch die eigenen Worte wollten nicht, wie sie sollten. Sie wollen immer noch nicht. Jetzt, mit diesem irrsinnigen Krieg nebenan, weniger denn je.

Immerhin lese ich wieder. Unruhig und unkonzentriert bisweilen, aber zwischendurch spüre ich doch unverkennbar etwas von dem alten Zauber… Man muss den Widrigkeiten der Gegenwart etwas entgegensetzen, hatte ich mir gesagt, als ich an einem der ersten Januartage beschloss, 2022 jede Woche ein literarisches Werk zu lesen. Es hat nicht jede Woche geklappt, nein, aber doch in den meisten. Dazu trug auch der lebhafte Austausch mit S. bei. „Schön, sich in der einhelligen Liebe zur Literatur auch sehr unterhaltsam uneinig sein zu können“, schrieb sie hinterher. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Außer: wie dankbar bin ich, diese Heimat wiedergefunden zu haben!

Gut genug

„Manchmal möchten wir jemand anderes sein, jemand, der frei ist von Schmerzen und Ängsten, frei von Einsamkeit und wiederkehrenden Problemen. Manchmal möchten wir jemand sein, der ein anderes Leben an einem anderen Ort führt. Wir müssen irgendwann akzeptieren lernen, dass diese Phantasien zu uns gehören. Genauso wie unsere Beschränkungen, Schwächen und unterschiedlichen biographischen Voraussetzungen gehören sie zu unserem Leben – ob wir es wollen oder nicht. … Wir werden immer Vorstellungen von einem besseren Leben an einem besseren Ort hegen, aber das ist nichts Schlimmes, solange wir uns ein Zuhause bauen, das gut genug ist.“

Daniel Schreiber, Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen. Berlin 2018

Ein persönlich-philosophischer Essay über das Sehn-Suchen, über den Wunsch, sich neu zu erfinden, die Unvermeidlichkeit, sich selbst zu begegnen und über das Ankommen, am Ende doch. Und darüber, welche Rolle Sprache(n) und beharrliches Gehen in diesem Prozess spielen (können). Ich empfand den schmalen Band als ebenso ergreifend wie wohltuend.

Für immer Rosalía

Als ich zeitgleich mit der Señora Castro die Anhöhe erreichte, hockte der Bauer Iglesias Castro schon dort. Auf einem Stein, neben seinem Pferdefuhrwerk, als kennte er weder Woher noch Wohin. Auch das Pferd verspürte offenbar keine Eile. Mit halb geschlossenen Augen döste es in den nordspanischen Frühlingstag. Dann und wann schlug es mit dem Schweif eine lästige Fliege fort. Als die Señora und ich das Stillleben aus Mann und Ross erreichten, hatten wir noch kaum ein Wort gewechselt. Nicht viel mehr als „Buen camino!“, „Guten Weg!“, den Standardgruß aller Jakobspilger. Eine Anhöhe ist ein guter Ort, um einen Moment innezuhalten, sich umzuschauen – und ein paar Worte zu wechseln, wenn es sich gerade so ergibt.

Im Laufe unserer kurzen Unterhaltung stellte sich heraus, dass die Señora und der Bauer denselben Namen tragen: Castro. Dass der Bauer so heißt, ist nicht weiter verwunderlich. Der Name ist in Nordspanien ungefähr so verbreitet wie Müller oder Meier in Norddeutschland. Die Señora dagegen hatte schon die halbe Welt durchmessen, um einem der vielen Pilgerwege ins galicische Santiago de Compostela zu folgen. Ihre Reise begann im fernen Uruguay. Dort ist die alte Dame mit dem flotten grauen Bubikopf zu Hause. Und gleichzeitig begann die Reise praktisch um die Ecke, denn drei ihrer Großeltern stammen aus Galicien, der vierte aus dem Baskenland. Als junge Menschen hatten sie wie so viele andere das Land verlassen, um in Südamerika ihr Glück zu suchen.

Nur wenige Kilometer weiter, in dem Städtchen Padrón, sollte ich der nächsten Señora Castro begegnen, die allerdings wohl nur ich so nenne. Und das auch nur in Gedanken, denn die Señora ist schon eine Weile tot. Aber eigentlich stimmt auch das nicht. In den Herzen ihrer Landsleute ist sie nämlich sehr lebendig. Ebenso wie der Apostel Jakobus, dessen Leichnam der Legende zufolge per Schiff von Jerusalem nach Padrón befördert wurde, bevor er in der Kathedrale von Santiago 25 Kilometer weiter nördlich seine letzte Ruhe fand. In Padrón, das ansonsten vor allem für seine megaleckeren in Öl gebratenen grünen Paprika (Pimientos de Padrón) bekannt ist, verbrachte die Dichterin Rosalía de Castro (1837-1885) ihre letzten Lebensjahre. Später lebte dort außerdem noch der Nobelpreisträger Camilo José Cela (1916-2002), einer der bekanntesten spanischen Schriftsteller. Der steinerne Cela markiert das eine Ende des mit wunderschönen alten Platanen bestandenen Paseo de Espolon am Ufer des Sar, die steinerne Rosalía das andere. In ihrem Rücken, unter dem Altar der Iglesia de Santiago, befindet sich der Stein, an dem einst das Boot mit dem enthaupteten Apostel an Bord am Flussufer festgemacht haben soll und nach dem die Stadt ihren Namen erhielt.

All die steinernen Zeugen vor Augen, all die Geschichten im Kopf, die historisch belegten ebenso wie die anderen, erreichte ich die nächste Anhöhe. Zeit, für einen Moment innezuhalten. Ein Mann auf dem Feld am Wegesrand hörte bereitwillig auf zu graben, stützte sich auf seinen Spaten und begann, kaum hatte ich Padrón erwähnt, von Rosalía zu schwärmen, wie sie dort alle nennen, und von ihren wunderbaren Texten. Er gab mir auch gleich eine Kostprobe, auf gallego natürlich. Denn das ist ja gerade das Tolle an Rosalía, dass sie einen Teil ihres Werks in der galicischen Landessprache verfasste und dieser damit zu literarischer Bedeutung verhalf – allen voran die „Cantares Gallegos“, die galicischen Lieder. Für mich übersetzte er die Zeilen freundlicherweise noch ins kastilische Spanisch. Ich weiß noch, dass es um die Landschaft ging und diese Mischung aus Melancholie und Sehnsucht, die den Menschen in diesem Teil der Welt eingeboren zu sein scheint. Kurz sprach ich den Mann auf den zweiten berühmten Autor Padróns an: Camilo José Cela. Den mochte er offenbar nicht, ein „bruto“ sei das gewesen, das wüssten alle in der Gegend. Und schon war er wieder bei Rosalía, der Vielgeliebten. Mit leuchtenden Augen nahm er mir das Versprechen ab, etwas von ihr zu lesen, in welcher Sprache auch immer. Die deutsch-spanische Ausgabe des Lyrikbandes „An den Ufern des Sar“ habe ich inzwischen bestellt. Beim Herumschmökern im Internet stellte ich im Übrigen fest, dass auch der Kollege Cela offenbar große Stücke auf Rosalía de Castro hielt (siehe dazu die interessante Website „Rosalía auf Deutsch“ von Christian Switek).

Rosalía blieb mir treu auf meinem Weg durch Galicien. An den Ufern des Lires, nur einen Steinwurf vom tosenden Atlantik entfernt, stehen sogar Tafeln mit Versen der Dichterin – am Fluss, vor dem Friedhof, neben der Kirche. Idyllisch sieht das aus. Kaum mag man glauben, wie arm auch das Dorf Lires mit seinen hübschen alten Steinhäusern noch vor gar nicht langer Zeit gewesen sein muss. Oder ist es Zufall, dass in praktisch jedem Gespräch von Familienangehörigen die Rede ist, die bis in die 1960er Jahre nach Südamerika auswanderten? Nach Argentinien vor allem, aber auch nach Uruguay, wie die Großeltern der anderen Señora Castro. Der Vater von Raúl ebenso wie die Vettern von José. Die Vettern waren zum Teil erst 15, als sie die lange Reise ins Ungewisse antraten. José dagegen war mit 12 Jahren zum ersten Mal in der Stadt, im nur neun Kilometer entfernten Cee. Für die kurze Reise hatte zuvor einfach keine Notwendigkeit bestanden. Es ist wohl so, wie der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano schreibt: „Das Beste der Welt liegt in den vielen Welten, die die Welt enthält, den ganz verschiedenen Melodien des Lebens, seinen Schmerzen und vielerlei Schattierungen: den tausendundeinen Arten, zu leben und zu lieben, zu glauben und zu schaffen, zu essen, zu arbeiten, zu tanzen, zu spielen, zu reden, zu leiden und zu feiern, die wir im Laufe von Tausenden und Abertausenden von Jahren entdeckt haben.“

Fremd, relativ

P1060187Heimat – Fremde. Nähe – Distanz. Zugehörigkeit – Fremdheit. Wir – Die. Freund – Feind. Gleichartig – andersartig.

„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“, wusste schon der Komiker Karl Valentin.

Erst in der Fremde wird das Eigene fremd und ermöglicht so auch neue Formen der Selbsterkenntnis. Je offener einer unterwegs ist, desto mehr.

Das Fremde in uns selbst. Das Bewusstsein der eigenen Fremdheit.

Einer, der mit dem Wechsel der Perspektiven zu spielen gelernt hat, ist der Schriftsteller Stephan Thome. Als Pendler zwischen Asien und Europa ebenso wie als Autor des Roman-Duos „Fliehkräfte“ und „Gegenspiel“ – Szenen einer Ehe erst aus seiner, dann aus ihrer Sicht. In der ZEIT (Ausgabe vom 30. Juni 2016) hielt Thome gerade ein feines Plädoyer für das Reisen.

Über Fremdheit: „Fremdheit ist keine Eigenschaft einer Person oder eines Ortes. Sie spiegelt die Empfindung von Distanz zwischen dem eigenen und dem anderen, dem Vertrauten und dem Neuen.“

Im eigenen Land ebenso wie auf Reisen.

Über Aufbruch und Rückkehr: „Dabei entsteht eine Übersetzung, die jeder Reisende leisten muss: das Fremde in eigene Begriffe fassen, dem Erlebten einen Sinn geben und ihn mit anderen teilen.“

Zum Wohle des Reisenden selbst wie der Daheimgebliebenen.

Die Ankunft II

Shaun Tan: The Arrival, 2006

P1130623Ein Mann verlässt seine Heimat. Er lässt Frau und Tochter zurück, um in einem anderen Land ein neues Leben für sich und seine Familie aufzubauen. Es braucht nicht viele Worte, um die uralte immer neue Geschichte von Verzweiflung und Hoffnung, von Abschied und Aufbruch, von Fremde und Einsamkeit, aber auch von Begegnung und Neuanfang zu skizzieren, und sie ist ja auch schon viele Male erzählt worden. Shaun Tan braucht überhaupt keine Worte, und wie er die Geschichte eines jeden Migranten, eines jeden Flüchtlings, eines jeden Heimatlosen erzählt, das ist absolut einzigartig.

Der australische Autor und Illustrator, selbst Sohn von Einwanderern, hat mit seiner Graphic Novel „The Arrival“ eine Bilderwelt geschaffen, die die Grenzen des Statischen zu sprengen scheint und den Betrachter in eine Art Stummfilm aus schwarz-weißen und sepiafarbenen Zeichnungen zieht. Viele Bilder, zu Serien angeordnet, sind nur wenige Zentimeter groß: Gesichter, die wie Nahaufnahmen wirken, Details in einem Raum, Bild-gewordene Erzählungen von Menschen, denen der namenlose Mann auf seiner Reise begegnet. Andere füllen ganze Seiten oder auch mal zwei in dem großformatigen Buch: die Heimatstadt, durch deren wie ausgestorben wirkende Straßen sich dunkle Drachenschwänze winden, das winzige Auswandererschiff auf dem weiten Meer, die Ankunft in der fremden Stadt, deren Skyline entfernt an New York erinnert, die aber so surreal anders ist als alles, was wir kennen, dass sie ebenso gut auf einem anderen Planeten liegen könnte.

Seit das grandiose Bilderbuch bei mir eingezogen ist, habe ich wohl schon Dutzende Male darin „gelesen“. Immer noch schlüpfe ich jedes Mal in die Rolle des Einwanderers und fühle mich genauso fremd wie er – und so unendlich erleichtert, als andere Menschen, oft selbst Gestrandete, dem Neuankömmling ihre Hilfe anbieten. Mit jedem „Lesen“ entdecke ich Details, die der Aufmerksamkeit bisher entgangen waren, erscheint mir das Buch noch tiefer, noch phantastischer und anrührender. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, heißt es. Wie viele Worte müsste man sagen, um diesem Kunstwerk gerecht zu werden?

Auf jeden Fall noch diese: Es ist ein Buch für wirklich jeden, besonders in Zeiten wie diesen. Für Männer, Frauen und Kinder (ab etwa acht Jahren). Um andere zu beschenken oder um sich selbst ein Geschenk zu machen. Und am besten in der gebundenen englischen Originalausgabe, denn die kostet nur etwa die Häfte der (gebundenen) deutschen „Übersetzung“.

… und uns anlehnen

P1120757Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir stünden fest.
Man muss den Atem anhalten,
bis der Wind nachlässt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau
die alten Muster zeigt
und wir zu Hause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen
als sei es das Grab
unserer Mutter.

Hilde Domin: Ziehende Landschaft

P1120772Die Bäume, deren Wurzeln ich auslieh, um Hilde Domins Betrachtungen über Heimat und Fremde ein Gesicht zu geben, stehen etwas außerhalb der äthiopischen Kaiserstadt Gondar in einem Garten, der von einer starken Mauer umgeben ist. Mitten darin befindet sich ein Bassin und in dem Bassin ein Wasserschloss aus dem 17. Jahrhundert: das Bad von Kaiser Fasilidas. Das Bassin ist das ganze Jahr über leer. Nur zum Timkat-Fest, dem äthiopisch-orthodoxen Fest der Taufe Jesu im Januar, wird es gefüllt. Sobald der Bischof das Wasser geweiht hat, stürzen sich Kinder von den Bäumen am Rand hinein. Manchmal, so hörte ich, würde dabei auch ein neugieriger Japaner samt Kamera mitgerissen. Und dann ist wieder Ruhe.

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Ausreis(s)er und Häfen

P1020212„Dascha gediegen!“ würde der Hamburger sagen. (Für Nicht-Norddeutsche und Menschen, die das Ohnsorg-Theater nicht mal aus dem Fernsehen kennen: Das bedeutet soviel wie „Sachen gibt’s!“) REIS(S) AUS! fordert eine Agentur für neue Reiseerfahrungen Spaziergänger an der Außenalster auf. Nur zwei Autolängen weiter parkt der Heimat-Hafen-Hamburg. Bloß nicht übermütig werden!

P1020215Zwischen den Polen ein Kommen und Gehen: Das leuchtend-grüne Geschoss, das neulich direkt hinter dem Ausreis(s)er-Bus Stellung bezog, war zur abschüssigen Straße hin mit sicher nicht wenig Aufwand aufgebockt worden, als beabsichtigten seine Besitzer, in Hamburg zu übersommern.

P1020256Doch weit gefehlt! Anderntags war es bereits wieder dem Ruf in irgendeine Ferne gefolgt. Dafür erfreute auf der gegenüberliegenden Alsterseite die rollende Villa Pusteblume das Auge der Passanten.

P1020274Auch sie ist längst wieder fort… Zeit für eine Solidaritätsadresse, mag man sich im Hafen gedacht haben. ZUHAUSE in Hamburg liest dort wie eine mahnende Erinnerung, wer von den Landungsbrücken aus über die Elbe schaut. Fernweh braucht man an einem Fluss Richtung Meer ja nicht extra zu wecken.

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Am Wasser zuhause

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Weihnachtsbesuch in der Kleinstadt. In dem backsteinernen Gebäude an der Stirnseite habe ich vor Urzeiten mein journalistisches Volontariat absolviert. Gleich dahinter lag meine erste eigene „Bude“, ein möbliertes Zimmer über einer Wäscherei. So fühlte sich damals Heimat an. Ohne die weihnachtliche Deko natürlich.

Und heute? Stellt sich dieses Gefühl von Zuhause am verlässlichsten ein, wenn ich mit der Bahn aus Richtung Süden kommend zwischen Außenalster und Binnenalster hindurchfahre. Der Hamburger Hauptbahnhopf liegt hinter mir, gleich werde ich am Dammtor aussteigen. Und vorher das immer gleiche Ritual: ein langer weiter Blick nach rechts über die Außenalster, dann noch ein schneller nach links, bevor das Rathaus nicht mehr zu sehen ist, Sachen zusammenraffen und raus.

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Neulich erzählte ich jemandem von diesem spezifischen Kennedy-und-Lombardsbrücken-Gefühl. Ja, sagte der nur. Und eine ganze Weile später: Er hätte sich auch schon gefragt, ob diejenigen, die am Hauptbahnhof aussteigen, wohl überhaupt in Hamburg ankommen…

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Heimat, süße Heimat

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P1050136Kennen Sie Wettenbostel? Nein? Ich war gestern auch zum ersten Mal dort. Um von diesem wunderbaren Ort zu erfahren, musste ich sogar bis ans andere Ende der Welt reisen, in den äußersten Süden Neuseelands, wo eine ehemalige Hamburger Kulturschaffende eine neue Heimat gefunden hat – und mir begeistert von zwei befreundeten Theatermenschen aus Hamburg erzählte, die in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide eine neue kulturelle Heimat gefunden, eigentlich eher: geschaffen haben. Es floss dann doch noch ziemlich viel Wasser die Elbe (und die Luhe) runter, bis ich den Weg zum Jahrmarkttheater von Kostümbildnerin Anja Imig und Regisseur Thomas Matschoß fand. Ein bisschen traurig bin ich bei dem Gedanken, was mir an diesem Sommer-Theater-Spielort in den vergangenen Jahren alles entgangen sein muss. Auf der anderen Seite: Einen passenderen Start für meine neue Theaterliebe konnte es gar nicht geben. Denn gestern war Heimat Abend in Wettenbostel. 

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P1050100 P1050123P1050148„Heimat, das sind uralte Eichen. Das riecht nach selbstgebackenem Brot und feuchter Erde nach einem Gewitterregen. Es klingt nach Chören, die von der Liebe zu einem ‚Mägdelein‘ singen. Wen man auch fragt, jeder hat eine andere Vorstellung von diesem Begriff“, lese ich im Theaterflyer. In Wettenbostel ist Heimat in jedem Fall auch: gelb (Thomas Matschoß), orange, grün, rot und blau. Wie die „Fremdenführer“, die in Gruppen mit den Zuschauern über den alten Heidehof von Maria Krewet wandern, auf dass sie mit allen Sinnen Heimat erfahren. Ich gehöre zur blauen Gruppe von Andreas Furcht, der sonst den Dracula spielt. Mit dem Faltschemel unter dem Arm ziehen wir mal singend, mal schweigend und immer wieder laut lachend zwischen Hofplatz und Dorfteich, zwischen Feldrain und Eichenhain umher. Wir spüren Momenten der Unvergänglichkeit und dem Geheimnis eines alten Grabsteins nach. Wir lernen Ferdinand kennen und sehen ihn „rastlos, aber glücklich“ in die Fremde ziehen, während seine Frau verloren in den heimatlichen Abendhimmel blickt. Wir erfahren von den „Sauerstoff scheißenden Bakterien“, die vor Milliarden Jahren begannen, den (Heimat-)Boden in Wettenbostel und dem Rest der Welt vorzubereiten. Wir lauschen der Lovestory zwischen dem Bäckersburschen Anton und der Gattin des Schmieds, während auf der Dorfstraße gerade mal wieder ein Mähdrescher vorbeidonnert. Man könnte meinen, der sei Teil der Inszenierung, so punktgenau vermeiden Regie und Darsteller mit Witz und Selbstironie, dass noch die gefühlvollste Szene in Kitsch erstarrt.

P1050167Am Ende des Streifzugs erwartet die Theatergänger ein herrliches Potpourri musikalischer Erinnerungen, während Trockeneis-Nebel über dem Teich wabert. Und dann geht das Feuerwerk erst richtig los, immer noch Open Air, aber jetzt stationär hinter dem Voltigierplatz. Die Schauspielerinnen, die eben noch in den Büschen sangen und agierten, tragen nun gelb, orange, rot, grün und blau, die „Fremdenführer“ schwarz und weiß. Gemeinsam werfen sie die Zeitmaschine an, rasen von der „Neolithischen Revolution“ 10.000 Jahre vor Christus durch die Jahrtausende, die Lüneburger Heide natürlich immer im Blick. Der schiere Wahnsinn, wie sich Reales und Fiktives mischen, Urkomisches und Nachdenkliches! Dieses ebenso rasche wie überraschende Hin und Her (oder Nebeneinander?) ist einfach großartig. Die Verbindung zwischen den Pogromen der Pariser Bartholomäusnacht 1572 und dem Heidehof  ist übrigens wahr, habe ich mir sagen lassen. Aber schauen und hören Sie selbst: Den Heimat Abend gibt es in Wettenbostel noch bis zum Sonntag.

Über Anja Imig und Thomas Matschoß und ihr Jahrmarkttheater erzähle ich ein anderes Mal mehr – wenn ich die beiden in Bostelwiebeck besucht habe. Das liegt auch in der Heide, auf der anderen Seite von Altenmedingen, und wird in Zukunft ihre neue Winter-Spielstätte sein. Ich bin gespannt!