Tumbling Tumbleweeds

Wäre der Marktplatz im schleswig-holsteinischen Ratzeburg nicht gepflastert, er könnte eine großartige Kulisse für einen Western abgeben, so groß, so menschenleer ist er an diesem noch einmal warmen Mittag im Frühherbst. In meiner Phantasie spielt eine Mundharmonika ihr klagendes Lied. Der Wind treibt vertrocknete Pflanzenbüschel über den Platz. „See them tumbling down / Pledging their love to the ground! / Lonely, but free, I’ll be found / Drifting along with the tumbling tumbleweeds…“

Schritt für Schritt durchmesse ich die Weite. Erst jetzt erkenne ich die echten Steppenläufer dieses Orts. Sie sitzen auf den Bänken vor dem Alten Kreishaus. Gestrandet, für eine Weile zur Ruhe gekommen, wer weiß das schon. Auf der mittleren der drei Bänke rechts vom Haupteingang streckt ein Mann mittleren Alters im roten T-Shirt die langen Beine von sich. Das halbe Gesicht verdeckt von einem am Hinterkopf geknoteten weißen Tuch. Es mutet wie eine Mehrzweckwaffe gegen Zahnschmerzen, Mumps und Corona an.

Auf den drei Bänken links vom Haupteingang sitzen sie jeweils zu zweit. Ganz links gestikulieren zwei Kerle mit Basecaps, wild und ein wenig fahrig, wie nach reichlichem Alkoholgenuss. Ganz rechts hocken zwei ältere Frauen, nah beieinander und doch jede für sich. Die eine blickt unbestimmt in den Himmel, die andere auf den Boden unter ihren Füßen. Alle vier sind zu dick angezogen für diesen sonnigen Tag.

Auf der Bank in der Mitte und zugleich augenscheinlich in ihrem eigenen Universum ein Mann und eine Frau. Unter der Bank mehrere Tüten eines Lebensmittel-Discounters, die schon eine Weile im Gebrauch zu sein scheinen. Zwischen den Tüten ruhen seine Füße: der linke in einer weißen, der rechte in einer schwarzen Socke. Beide Sockenfüße stecken in schief getretenen Sandalen. Auf seinen Knien ihr nackter Fuß, die Sohle starr vor Schmutz. Er beugt sich über ihren Fuß, untersucht und knetet ausdauernd jeden ihrer Zehen. Gelegentlich ist ein Schnurren wie von einer Katze zu hören.

„See them tumbling down / Pledging their love to the ground! / Lonely, but free, I’ll be found / Drifting along with the tumbling tumbleweeds…“

Reingeschmeckt

So ein hübsches Städtchen! denke ich, während ich mit meinem Koffer durch die kopfsteingepflasterte Meißner Altstadt Richtung Freiheit rumpele. Zuerst sanft, ab dem Ende der Burgstraße entschieden steiler führt der Weg hinauf auf den Burgberg, der eigentlich ein Schlossberg ist. Deshalb und auch, weil Pflastersteine und Stufen mit einer zarten Eisschicht überzogen sind, die jeden unbedachten Schritt nur zu leicht in eine Rutschpartie in die falsche Richtung verwandelt, bleibe ich immer wieder stehen und mache innerlich Ah! und Oh!

Eindeutig: Es gibt nicht nur die Gnade der späten Geburt sondern auch die der späten Sanierung. Immer vorausgesetzt natürlich, sie kommt nicht so spät, dass gar nichts mehr zu retten wäre. Dieser sächsischen Kleinstadt ist augenscheinlich so manche Renovierungssünde erspart geblieben, die andernorts wenig Substanz hinter den historischen Fassaden, dafür aber umso größere Fenster darin hinterließ. Dass man durch den backsteinernen Ziergiebel des spätgotischen Prälatenhauses an den Roten Stufen den strahlend blauen Himmel sieht, ist übrigens kein Widerspruch. Das soll so. Immer vorausgesetzt natürlich, der Himmel strahlt gerade.

Vom Prälatenhaus bis zu meiner Unterkunft im ehemaligen Domherrenhof an der Freiheit ist es nur ein Katzensprung. Der Renaissancebau, dessen Kellergewölbe bis auf das 13. und 14. Jahrhundert zurückgehen, wurde nach jahrelangem Leerstand Anfang dieses Jahrtausends ebenso behutsam wie geschmackvoll saniert. Leider habe ich versäumt, auch nur ein einziges Foto von dem Komplex zu machen, vermutlich, weil dafür ja immer noch Zeit sein würde. Am tollsten ist allerdings ohnehin der Ausblick über das Elbtal – vom Dom und der Albrechtsburg zur Linken über die roten Ziegeldächer der Kaufmanns- und Bürgerhäuser bis hinunter zum Fluss.

Natürlich ist auch in Meißen nicht alles Gold, was glänzt. Die Goldene Sonne am Theaterplatz zum Beispiel, wie der Domherrenhof im 16. Jahrhundert erbaut und später der erste Gasthof mit Saalbetrieb im Ort, bräuchte dringend eine Generalüberholung. Und die Fettbemmenschänke auf der anderen Seite der Altstadtbrücke über die Elbe zumindest einen neuen Anstrich. Aber nicht deshalb tauchen sie hier auf, sondern weil sie so schön zum Thema sächsische Küche überleiten. In Hamburg hieße die Fettbemmenschänke übrigens „Schmalzbrotkneipe“. Für eine Vegetarierin klingt das eine so wenig verlockend wie das andere.

Da probiere ich doch lieber eine Meißner Fummel, auch wenn sich die kulinarische Erwartung nach Lektüre des Wikipedia-Eintrags in Grenzen hält: „Es handelt sich um einen Hohlkörper aus sehr dünnem, einfachen Teig. Die Form entspricht der eines unregelmäßigen runden ‚Ballons’. Das Gebäck ist äußerst spröde und daher zerbrechlich. Meißner Fummeln haben keinen besonderen Geschmack und wegen der nur hauchdünnen Teigschale um die innen befindliche Luft besitzen sie keinen nennenswerten Nährwert.“ Das glaube ich sofort, was den Unterhaltungswert der Fummel indes in keiner Weise schmälert. Allein das voluminöse Federgewicht heil von der Konditorei auf den Frühstückstisch von Freundin Anne zu schaffen, die gerade ihren Schreibtisch in der Frankfurter Chrismon-Redaktion mit dem der Elblandreporterin der Sächsischen Zeitung in Meißen getauscht hat, ist eine echte Herausforderung. Anne pölkt mit dem Messer ein paar Löcher in das Gebilde, das so zart ist, dass der dahinter liegende Käse – unter anderem ein köstlicher sächsischer Belsagio – golden durchschimmert.

Es heißt, Kurfürst August der Starke habe einst die hauchdünnen Fummeln anfertigen lassen. Zwischen Dresden und Meißen verkehrten regelmäßig Kuriere des Kurfürsten, die gern einen Schluck des bekannten Meißner Weins tranken, was ihnen im Sattel ihres Pferdes nicht so gut bekam. Daraufhin befahl der Kurfürst der Bäckerzunft zu Meißen, ein leicht zerbrechliches Gebäck herzustellen, das die Kuriere fortan bei sich tragen und bei der Ankunft in Dresden unversehrt vorzeigen mussten. Geschmacklich ließe sich die Fummel sicher durch die großzügige Beigabe von Gewürzen aufwerten, aber dann wäre sie eben nicht mehr die Alte. Und so beschließen Anne und ich, beim nächsten Mal lieber wieder auf die bewährte Eierschecke zurückzugreifen…

Wie still es in der Stadt ist! Ist dir das auch aufgefallen? fragt Anne. Vor allem Unterhaltungen scheinen irgendwie leiser geführt zu werden, leiser als in Hamburg oder Frankfurt beispielsweise. Diesen Eindruck hatte ich schon in der S-Bahn von Dresden nach Meißen gewonnen, aber für Zufall gehalten. Auch der junge Araber auf der Sitzbank gegenüber, mit dem ich mich während der Fahrt unterhielt, sprach leise. Ganz am Ende deutete er an, dass es nicht immer leicht sei in der Stadt. Umso mehr habe ich mich gefreut, als ich auf einem meiner Streifzüge durch die Meißner Gassen diesem Graffito begegnete:

Schon nach wenigen Tagen treffe ich auf der Straße die ersten „Bekannten“ wieder: die extravagante Frau in Rot und die alte Dame, mit der ich mich bei der Ausstellungseröffnung im Kunstverein unterhalten hatte. Freundlich nicken wir einander zu. Kleinstadt halt. Erinnerungen an diese besondere Mischung aus Geborgenheit und sozialer Kontrolle, wie ich sie einst in niedersächsischen Kleinstädten erlebt hatte, werden wach. Gleich darauf läuft mir der vermutlich schlechtestgekleidete Hund Meißens über den Weg… Ein buntes Städtchen!

Am Wasser zuhause

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Weihnachtsbesuch in der Kleinstadt. In dem backsteinernen Gebäude an der Stirnseite habe ich vor Urzeiten mein journalistisches Volontariat absolviert. Gleich dahinter lag meine erste eigene „Bude“, ein möbliertes Zimmer über einer Wäscherei. So fühlte sich damals Heimat an. Ohne die weihnachtliche Deko natürlich.

Und heute? Stellt sich dieses Gefühl von Zuhause am verlässlichsten ein, wenn ich mit der Bahn aus Richtung Süden kommend zwischen Außenalster und Binnenalster hindurchfahre. Der Hamburger Hauptbahnhopf liegt hinter mir, gleich werde ich am Dammtor aussteigen. Und vorher das immer gleiche Ritual: ein langer weiter Blick nach rechts über die Außenalster, dann noch ein schneller nach links, bevor das Rathaus nicht mehr zu sehen ist, Sachen zusammenraffen und raus.

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Neulich erzählte ich jemandem von diesem spezifischen Kennedy-und-Lombardsbrücken-Gefühl. Ja, sagte der nur. Und eine ganze Weile später: Er hätte sich auch schon gefragt, ob diejenigen, die am Hauptbahnhof aussteigen, wohl überhaupt in Hamburg ankommen…

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