Kennen Sie Wettenbostel? Nein? Ich war gestern auch zum ersten Mal dort. Um von diesem wunderbaren Ort zu erfahren, musste ich sogar bis ans andere Ende der Welt reisen, in den äußersten Süden Neuseelands, wo eine ehemalige Hamburger Kulturschaffende eine neue Heimat gefunden hat – und mir begeistert von zwei befreundeten Theatermenschen aus Hamburg erzählte, die in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide eine neue kulturelle Heimat gefunden, eigentlich eher: geschaffen haben. Es floss dann doch noch ziemlich viel Wasser die Elbe (und die Luhe) runter, bis ich den Weg zum Jahrmarkttheater von Kostümbildnerin Anja Imig und Regisseur Thomas Matschoß fand. Ein bisschen traurig bin ich bei dem Gedanken, was mir an diesem Sommer-Theater-Spielort in den vergangenen Jahren alles entgangen sein muss. Auf der anderen Seite: Einen passenderen Start für meine neue Theaterliebe konnte es gar nicht geben. Denn gestern war Heimat Abend in Wettenbostel.
„Heimat, das sind uralte Eichen. Das riecht nach selbstgebackenem Brot und feuchter Erde nach einem Gewitterregen. Es klingt nach Chören, die von der Liebe zu einem ‚Mägdelein‘ singen. Wen man auch fragt, jeder hat eine andere Vorstellung von diesem Begriff“, lese ich im Theaterflyer. In Wettenbostel ist Heimat in jedem Fall auch: gelb (Thomas Matschoß), orange, grün, rot und blau. Wie die „Fremdenführer“, die in Gruppen mit den Zuschauern über den alten Heidehof von Maria Krewet wandern, auf dass sie mit allen Sinnen Heimat erfahren. Ich gehöre zur blauen Gruppe von Andreas Furcht, der sonst den Dracula spielt. Mit dem Faltschemel unter dem Arm ziehen wir mal singend, mal schweigend und immer wieder laut lachend zwischen Hofplatz und Dorfteich, zwischen Feldrain und Eichenhain umher. Wir spüren Momenten der Unvergänglichkeit und dem Geheimnis eines alten Grabsteins nach. Wir lernen Ferdinand kennen und sehen ihn „rastlos, aber glücklich“ in die Fremde ziehen, während seine Frau verloren in den heimatlichen Abendhimmel blickt. Wir erfahren von den „Sauerstoff scheißenden Bakterien“, die vor Milliarden Jahren begannen, den (Heimat-)Boden in Wettenbostel und dem Rest der Welt vorzubereiten. Wir lauschen der Lovestory zwischen dem Bäckersburschen Anton und der Gattin des Schmieds, während auf der Dorfstraße gerade mal wieder ein Mähdrescher vorbeidonnert. Man könnte meinen, der sei Teil der Inszenierung, so punktgenau vermeiden Regie und Darsteller mit Witz und Selbstironie, dass noch die gefühlvollste Szene in Kitsch erstarrt.
Am Ende des Streifzugs erwartet die Theatergänger ein herrliches Potpourri musikalischer Erinnerungen, während Trockeneis-Nebel über dem Teich wabert. Und dann geht das Feuerwerk erst richtig los, immer noch Open Air, aber jetzt stationär hinter dem Voltigierplatz. Die Schauspielerinnen, die eben noch in den Büschen sangen und agierten, tragen nun gelb, orange, rot, grün und blau, die „Fremdenführer“ schwarz und weiß. Gemeinsam werfen sie die Zeitmaschine an, rasen von der „Neolithischen Revolution“ 10.000 Jahre vor Christus durch die Jahrtausende, die Lüneburger Heide natürlich immer im Blick. Der schiere Wahnsinn, wie sich Reales und Fiktives mischen, Urkomisches und Nachdenkliches! Dieses ebenso rasche wie überraschende Hin und Her (oder Nebeneinander?) ist einfach großartig. Die Verbindung zwischen den Pogromen der Pariser Bartholomäusnacht 1572 und dem Heidehof ist übrigens wahr, habe ich mir sagen lassen. Aber schauen und hören Sie selbst: Den Heimat Abend gibt es in Wettenbostel noch bis zum Sonntag.
Über Anja Imig und Thomas Matschoß und ihr Jahrmarkttheater erzähle ich ein anderes Mal mehr – wenn ich die beiden in Bostelwiebeck besucht habe. Das liegt auch in der Heide, auf der anderen Seite von Altenmedingen, und wird in Zukunft ihre neue Winter-Spielstätte sein. Ich bin gespannt!