Heimat – Fremde. Nähe – Distanz. Zugehörigkeit – Fremdheit. Wir – Die. Freund – Feind. Gleichartig – andersartig.
„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“, wusste schon der Komiker Karl Valentin.
Erst in der Fremde wird das Eigene fremd und ermöglicht so auch neue Formen der Selbsterkenntnis. Je offener einer unterwegs ist, desto mehr.
Das Fremde in uns selbst. Das Bewusstsein der eigenen Fremdheit.
Einer, der mit dem Wechsel der Perspektiven zu spielen gelernt hat, ist der Schriftsteller Stephan Thome. Als Pendler zwischen Asien und Europa ebenso wie als Autor des Roman-Duos „Fliehkräfte“ und „Gegenspiel“ – Szenen einer Ehe erst aus seiner, dann aus ihrer Sicht. In der ZEIT (Ausgabe vom 30. Juni 2016) hielt Thome gerade ein feines Plädoyer für das Reisen.
Über Fremdheit: „Fremdheit ist keine Eigenschaft einer Person oder eines Ortes. Sie spiegelt die Empfindung von Distanz zwischen dem eigenen und dem anderen, dem Vertrauten und dem Neuen.“
Im eigenen Land ebenso wie auf Reisen.
Über Aufbruch und Rückkehr: „Dabei entsteht eine Übersetzung, die jeder Reisende leisten muss: das Fremde in eigene Begriffe fassen, dem Erlebten einen Sinn geben und ihn mit anderen teilen.“
Zum Wohle des Reisenden selbst wie der Daheimgebliebenen.
Ja, man reist in sich selbst und in der äußeren Welt … Vorsicht ist geboten, wenn man sich selbst als Maß aller Dinge nimmt, aber auch, wenn man sich selbst völlig verliert … eine schwierige Balance und auch eine schwierige Erkenntnis, dass es ja im Bereich des Lernens und Erkennens keinen Endzustand der Weisheit gibt, sondern dass alles immer im Fluss ist, sich immer verändert …. alles muss immer wieder hinterfragt werden. Niemand ist sicher vor der für den Geist tödlichen Überzeugung, dass irgendetwas endgültig in Stein gemeiselt ist.
Deine Ausführungen habe ich gern gelesen, liebe Myriade. Ja, es braucht beides: Beweglichkeit, die Bereitschaft, das Eigene (immer wieder) in Frage zu stellen u n d innere Haltung, die Standfestigkeit, Werte und für richtig Befundenes zu verteidigen. Und die Balance zwischen beidem ist ihrerseits Bewegung, nie Stillstand oder wie du schreibst: in Stein gemeißelt.
Herr Thome ist ein kluger Reisender, ich lese ihn auch sehr gerne. Und das Zitat „das Fremde in eigene Begriffe fassen“ – das passt auch zu meiner derzeitigen Lektüre (Canetti, Die Stimmen von Marrakesch). Feinsinnig, deine Betrachtungen zum Fremdsein!
Ach, das ist schön, dass du Elias Canetti in diesem Zusammenhang nennst, liebe Birgit! Ich habe „Die Stimmen von Marrakesch“ noch gut im Ohr, nicht mehr die einzelnen Geschichten, aber so etwas wie einen Grundton der warmherzigen Offenheit für all das Fremde, Unbekannte. Ich werde das Büchlein demnächst noch einmal vornehmen und schauen, ob mich die Erinnerung trügt. Auf deine Besprechung freue ich mich jedenfalls schon.
Du hast die Variationen des Fremdseins wunderbar zusammen gefasst, da kann ich nur nicken und dich herzlich grüssen
Ulli
Was einem so durch den Kopf geht in Zeiten, in denen allüberall (vermeintliche) Gewissheiten bröckeln… Danke, liebe Ulli, und einen herzlichen Gruß zurück!
Manchmal ist das Fremde mehr das Eigene als das Eigene, das ich mit mir herumschleppe, fälschlicherweise glaubend, es sei meins, obgleich es ein Fremdes ist.
Ich meine mit dem falschen Eigenen das Korsett aus Glaubenssätzen und Verhaltensweisen, das mir wie jedem seit Kindestagen angepasst wurde, während das eigentlich Eigene darunter dahinkümmert. ….
Und um zu erkennen, ob das, was ich für das Eigene halte, wirklich meins ist bzw. ob es meins bleiben soll, brauche ich unbedingt die Begegnung mit dem anderen, dem Fremden, das – wie du schreibst – ja tatsächlich viel mehr meins sein kann, als das, was ich bisher dafür hielt. Ich mag deine Gedanken schon wegen der Melodie, die in ihnen klingt, liebe Gerda. Außerdem führen sie zu sehr philosophischen Fragen wie der, ob es wohl so etwas wie einen unveräußerllichen Wesenskern gibt und was daraus ggf. zu folgern wäre. Aber bevor ich mich darauf einlasse, will erst noch ein bisschen Arbeit erledigt sein. 😉
Liebe Maren, die interessantesten Reisen sind in der Tat jene, bei denen man sich aus seiner eigenen Komfortzone heraus bewegt. Das muss nicht immer gleich ein exotisches Reiseziel sein. Wichtig ist, dass man bereit ist, sich auf etwas Neues einzulassen. Und auf jeder Reise wird auch das Ich ein Stück weit verändert, denn plötzlich ist das Fremde gar nicht mehr so fremd. Liebe Grüsse aus der nicht allzu fremden Fremde in Südengland, Peggy
Mir scheint, wir bevorzugen eine ähnliche Art des Reisens, liebe Peggy… 🙂 Kennst du die Aufforderung des Dalai Lama: „Begib dich einmal im Jahr an einen Ort, an dem du noch nie gewesen bist.“? Diese Orte (mehr als einmal im Jahr ist sicher auch kein Fehler) müssen, wie du richtig schreibst, ja weder exotisch noch weit weg sein. Dir und dem Kleinen Entdecker weiterhin eine schön-spannende Zeit in der nicht allzu fremden Fremde!
Klingt alles so harmonisch. Aber das Fremde ist eben auch das Bedrohliche. Das ganz Andere. Das, was einem nicht in den Kopf will. Er ist mir fremd geworden. Oder: Es befremdet mich. Schwierig, sein Herz wieder aus dieser Schlinge zu ziehen. Und dann: Krankheiten, die einen in der eigenen Haut fremd werden lassen. Ob es da irgendetwas ausser Mut gibt, das dagegen hilft?
Liebe Stephanie,
ich weiß nicht genau, was in deinen Ohren „so harmonisch“, offenbar zu harmonisch klingt – der Beitrag, die Kommentare, beides zusammen… Jedenfalls freue ich mich, dass deine Zeilen mir Gelegenheit geben, einen Aspekt zu vertiefen, den ich ganz wichtig finde.
Nein, ich muss nicht alles Fremde, das mir begegnet, mögen oder es mir gar an-eignen. Worum es mir geht, ist, überhaupt Begegnung zuzulassen. Nicht immer, aber immer wieder. Das ist nicht immer einfach und auch nicht immer schön, manchmal macht es auch furchtbar traurig oder wütend oder es ist beklemmend oder sogar bedrohlich. Aber es ist lehrreich und es sorgt für Klarheit, die ja auch darin bestehen kann, stärker und bewusster Ja zu etwas Eigenem zu sagen. Das muss gar nichts Großes, Dramatisches sein. Ich erinnere mich z.B. noch gut, wie mir vor vielen Jahren, als ich oft nach Spanien reiste und dort auch eine Weile lebte, deutlich wurde, wieviel „typisch Deutsches“ in mir steckt, was ich als bekennende Weltbürgerin bis dahin glattweg abgestritten hätte. Heute weiß ich: ja, das bin ich auch.
Wenn einem ein Mensch fremd wird, wie du schreibst, kann das natürlich sehr traurig sein. Aber es ist nach meiner festen Überzeugung unvermeidlich, dass das hin und wieder geschieht. Menschen verändern sich – man selbst oder der andere oder beide. Manchmal sind es auch „nur“ die Umstände. Eine Krankheit, die dazu führt, dass man sich selbst fremd in der eigenen Haut fühlt, ist da noch mal ein anderes Kaliber, denke ich. Wie alle Begegnungen mit dem Fremden, die sich einer nicht ausgesucht hat. Vertreibung, Flucht z.B. Umso wichtiger scheint es mir zu sein, dass wir alle immer wieder Erfahrungen damit machen, wie es ist, wenn man sich fremd fühlt. Dann kann man sich auch besser in das Gegenüber hineinversetzen, dem es gerade so geht. Und zu dem Mut, von dem du schreibst, gesellt sich, wenn es gut läuft, Beistand, Begleitung.
Liebe Maren, die letzten zwo Sätze sind mir heute den ganzen Tag im Kopf herumgeschwirrt. So schön, dass ich jetzt noch mal vorbei komme, um sie mir auszudrucken. Vielen Dank, Stefanie
„Dabei entsteht eine Übersetzung, die jeder Reisende leisten muss: das Fremde in eigene Begriffe fassen, dem Erlebten einen Sinn geben und ihn mit anderen teilen.“
Zum Wohle des Reisenden selbst wie der Daheimgebliebenen.
Das freut mich sehr, liebe Stefanie! Dieses Übersetzen, dieses Fließen scheint mir immer wichtiger zu werden. Und es funktioniert ja auf so vielfältige Weise: Wenn ich reise, bringe ich etwas „aus der Fremde“ mit zurück, aber ich nehme auch immer etwas von Zuhause mit, das in die Begegnungen am anderen Ort, im anderen Land einfließt. Und wenn ich daheim mit Migranten oder Touristen spreche, ist es nicht anders: Wir tauschen Eigenes und Fremdes aus.