Sommer, herbstfarben

Kurzen Sommer blüht die Blume,
Denn das Schöne währt nicht lang,
Schwach Gedächtnis bleibt vom Ruhme,
Jubel schwindet und Gesang.

Blumen welken, Mädchen altern,
Folgsam ewigem Gesetz,
Jugend bannt man nicht mit Psaltern,
Und die Dauer bleibt Geschwätz.

Deshalb wollen wir zur Neige
Schlürfen jeden Augenblick;
Blau der Himmel, grün die Zweige,
Sei nicht dumm und preis das Glück!

Ferdinand Sauter (1804-1854), österreichischer Dichter: Sei nicht dumm

Pastorale

In die Lüneburger Heide kam er der Schafe wegen. Mit Schafen hatte er schon immer zu tun, auch daheim im Oberfränkischen. Vielleicht kam er auch, um dem Erzkatholischen zu entfliehen, vor dem ihm bis heute graut. „Wo sind denn all die Menschen vor uns hingegangen, all die Neandertaler und Homo sapiense“, will er wissen, „wo sind denn ihre Seelen geblieben, von denen die Geistlichen immer reden?“ Er für sein Teil glaube ja, dass wir wieder dahin zurückkehren, woher wir gekommen seien – ins Nichts. Das macht ihm ein bisschen Angst, in seinem Alter. Er hat viel Zeit zum Grübeln, manchmal viel zu viel. Dabei sei er eigentlich ziemlich redselig, sagt er, und dass er vielleicht doch Prediger hätte werden sollen.

Der alte Mann ruft seinen Hund. Der ist noch jung, bisweilen übereifrig. Manchmal treibt er die Schafe weiter, während sie einfach nur friedlich grasen sollen. Drei Hunde hat der Schäfer, nimmt aber immer nur einen mit. Die drei zusammen stachelten sich gegenseitig zu sehr auf. „Zu viel Ehrgeiz“, sagt er, „das ist wie bei den Menschen.“ Jetzt muss er aber wirklich weiter, die Herde einholen. Bereits im Gehen, dreht er sich noch einmal um und ruft: „Also, ich wär ja noch zu haben!“ Die Worte kontrastieren mit der wie in Holz geschnitzten Miene.

Gesichter einer Landschaft

Jede Landschaft hat ihre eigene, besondere Seele, wie ein Mensch, dem du gegenüber lebst.

Christian Morgenstern

Verliere dein Geheimnis nicht vor mir,
Ich bitte dich, verbirg mir deine Reize,
Und wenn ich sehnlich nach Erkenntnis geize,
So schweige sphinxhaft meiner Wissbegier.
Erkennen heisst, ich hab‘ es längst erkannt,
Die Welt in seine armen Grenzen pferchen;
Du lehre mich aus deinen hundert Lerchen,
Dass deine Schönheit kein Verstand umspannt.

Christian Morgenstern: An eine Landschaft

Am Rande der Südheide

Dichter Mischwald rahmt die Straße, die schnurgerade ins Irgendwo führt. Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg durch ein wildbewegtes Meer aus Sommerwolken, lassen kleine helle Inseln im Grün entstehen, beleuchten hier und da ein Grüppchen Fingerhüte. Gehen. Immer weiter gehen. Weiter ohne Rast. Wie schön könnte das sein, wäre da nicht dieses unbestimmte ferne Donnern. Kündigt sich womöglich doch ein Gewitter an? Ich brauche eine Weile, bis es mir gelingt, den Traum vom Urwald mit der Realität in Verbindung zu bringen. Nur wenige Kilometer nördlich liegt der Truppenübungsplatz Munster, der eigentlich zwei „Plätze“ ist: Munster-Nord und Munster-Süd. Vom deutschen Manövergebiet ist es nur ein Katzensprung bis zum Nato-Truppenübungsplatz Bergen auf der anderen Seite. Und überall wird geschossen.

*

In Wietzendorf beziehe ich Quartier in einem Hotel, das wie viele der gepflegten großen Bauernhöfe im Ort unter mächtigen alten Eichen steht. Auch das Hotel war mal ein Hof. Dann kam eine Kneipe dazu, die Kneipe wurde größer, Gästezimmer wurden gebaut. Früher, erzählt der Wirt, gab es in jeder Straße eine Kneipe, viele nicht größer als ein Wohnzimmer, und in der Hauptstraße gleich sechs. Neben dem Hotel wird gerade die Kirmes für das Schützenfest aufgebaut. Zum Frühstück am nächsten Morgen erwartet der Wirt die Blaskapelle. Bis dahin legt der Ort letzte Hand an Vorgärten und Häuserfassaden.

„Ich war noch niemals in New York“ ist das erste Lied, das ich am anderen Morgen identifiziere. „Das will man doch sehen, das will man erleben, wenn man unterwegs ist“, mutmaßt freundlich der alte Schütze – eine pinkfarbene Pfingstrose im Lauf des geschulterten Gewehrs -, mit dem ich vor dem Bäckerladen ins Plaudern komme. Ich lächle unbestimmt und setze meinen Weg fort. Inzwischen weiß ich, dass der Ort gut 4100 Einwohner und mehr als 40 Vereine hat. Nur der Schützenverein im nahen Munster ist größer.

*

Endlich ein Stück Heide. Am Häteler Berg kämpft eine kleine Fläche, unterstützt von aktiven Bürgern, gegen Verbuschung und Verwaldung. Still ist es. Bis auf das immer fernere Feuer der Geschütze, das sich gelegentlich über das Lied des warmen Windes legt. Oberhalb von Müden, wo Wacholder sich und Eiche küssen, lädt ein paar Stunden später eine Bank zur ausgedehnten Rast. Hier fand der Heimatdichter Hermann Löns seine Seelenlandschaft, hier wurde ihm ein Denkmal gesetzt. „Lass deine Augen offen sein, geschlossen deinen Mund und wandle still, so werden dir geheime Dinge kund.“ Schön hat er das gesagt, finde ich. Was man sieht, wenn man die Augen offen hält, hat der große Arno Schmidt, der bis zu seinem Tod in dem Dörfchen Bargfeld gar nicht weit entfernt lebte, so formuliert: „Gebt mir Flachland, mit weiten Horizonten; Kiefernwälder, süß und eintönig, Wacholder und Erika; und an der Seite muss der weiche staubige Sommerweg hinlaufen, damit man weiß, dass man in Norddeutschland ist.“

*

In Müden blitzt und kracht es seit dem Abend, dass einem Hören und Sehen vergeht. Was ist schon ein bisschen Geschützdonner in der Ferne gegen ein richtiges Sommergewitter! Zum Glück habe ich den Rundgang durch das kopfsteingepflasterte Dorf mit seinen satten Bauerngärten – noch so ein Kandidat für den Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ – und das Abendessen am Heidesee da schon hinter mir. Der ebenso romantische wie rutschige Pfad am Ufer der Oertze mit ihren Steilufern, Prall- und Gleithängen legt am nächsten Morgen beredtes Zeugnis ab, dass da ein Stückchen Welt über Nacht gründlich gewaschen wurde. Immer enger rücken die Bäume, immer dichter stehen die Gräser. Nur das Herz wird immer weiter. Die Hosenbeine sind längst patschnass bis übers Knie.

*

Wenige Kilometer weiter spiegelt sich endloser Maschendrahtzaun in den Pfützen. Ein historischer Ort: Vom Fliegerhorst Faßberg starteten 1948 und 1949 „Rosinenbomber“ in das von der sowjetischen Besatzungsmacht blockierte Berlin. Der Ort in der Südheide war einer der wichtigsten Pfeiler der Luftbrücke der Westalliierten. Das Luftbrückenmuseum am Rande des Fliegerhorsts werde ich bei anderer Gelegenheit besuchen. Jetzt ruft der Wacholderwald…

Wanderlust

Lust for comfort
suffocates the soul
This relentless restlessness
liberates me

I feel at home
whenever the unknown surrounds me
I receive its embrace
aboard my floating house

Mit einem Auszug aus Björks „Wanderlust“ und Mai-Bildern aus der Lüneburger Heide verabschiede ich mich noch einmal für ein paar Tage, um das Unbekannte zu umarmen.

Hollywood in der Heide

Immer sind es Bäume
die mich verzaubern

Aus ihrem Wurzelwerk schöpfe ich
die Kraft für mein Lied

Ihr Laub flüstert mir
grüne Geschichten

Jeder Baum ein Gebet
das den Himmel beschwört

Grün die Farbe der Gnade
Grün die Farbe des Glücks

Rose Ausländer: Die Bäume

Die Eichen im Ilex-Dickicht findest du zwischen Schneverdingen und Niederhaverbeck in der Lüneburger Heide. Immer wieder zieht es mich in diesem Frühling dorthin. Gerade habe ich gelernt, dass Ilex auf Englisch „holly“ heißt. Hollywood in der Heide – eine Traumfabrik eigener Art, auch ohne Walk of Fame.

Wishful thinking

Ach, Amor, lass doch Phyllis nicht so spröde, / rief Damon aus in seinem Schmerz; / ach, Amor, lass doch Damon nicht so blöde, / rief Phyllis aus, und gib ihm etwas Herz!

Friedrich Hebbel

Dem Blütenzauber(er) begegnete ich auf einer wunderbaren Wanderung durch die Ausläufer der Lüneburger Heide. Die erbaulichen Zeilen von Friedrich Hebbel fischte ich aus dem „Ewigen Brunnen“ deutscher Dichtung, gesammelt und herausgegeben von Ludwig Reiners. Ich selbst wäre ja schon froh, wenn es mal ein paar Tage am Stück trocken und leidlich warm wäre. In diesem Sinne: Ein sonniges Wochenende!

At the Gates of Eden

P1070451Noch lag ein Rest Tageswärme in dem milchigen Licht über dem Moor. Eng schmiegten sich die beiden Körper aneinander. Kopf an Kopf, die langen Leiber ineinander verwoben wie ein Mädchenzopf, verharrten sie für einen Augenblick im trockenen Gras.

P1070485Ein Ruck, die Köpfe schnellten auseinander, die Oberkörper richteten sich auf, bogen sich geschmeidig weit zurück, während sich die unteren Körperhälften in Windeseile voneinander lösten und gleich darauf in neuer Form abermals kraftvoll umschlangen.

P1070484Wie zwei Synchronschwimmer tauchten Köpfe und Hälse aus dem Gras auf, und schon begann das Spiel von neuem: Verknäueln, drücken und pressen, kurz innehalten, hochschnellen…

P1070480Was wie ein ritualisierter Liebestanz anmutete, ist in Wahrheit eine Art Freistil-Ringkampf zwischen rivalisierenden männlichen Kreuzottern. Ähnlich wie die Konkurrenzkämpfe männlicher Rothirsche während der Brunftzeit folgt auch das Ringen der Schlangen festen Regeln. Nicht um Vernichtung geht es, sondern um die Festlegung einer Rangordnung.

P1070494Keinen Blick für das faszinierende Schauspiel hatten die jungen „Evas“ auf ihrem Weg ins nahe Feriendorf. Verzückt  und gleichzeitig kichernd (so unglaublich gleichzeitig, wie das vielleicht nur mit 15 möglich ist) schauten sie lieber in die untergehende Sonne.

Islands in the Sun

P1070405Die innere und die äußere Spur liefen nicht synchron. Müde und gedankenschwer tappte sie über die Holzbohlen. Die Landschaft erschien ihr flacher als sonst, geradezu zweidimensional, und irgendwie überbelichtet. Ein überraschend kräftiger Wind kräuselte die Oberfläche der Tümpel zur Linken und zur Rechten, raubte auch ihnen die gewohnte Tiefe. Dem Moor war das egal. Es war einfach da. Nach einer Weile, die ihr lang vorkam, entdeckte sie das Archipel der Sonneninseln.

P1070468P1070409P1070400P1070407