It’s up to you

Zeit vertreiben –
Reize verbitten?

Zeit verschenken –
Heinz verstecken!

Im Stapel ungelesener Zeitungen und Zeitschriften stieß ich auf diese Überschrift: „10 Tipps. So kannst du dir im Lockdown die Zeit vertreiben“. Die Vorstellung, Zeit zu vertreiben, sei es auch nur sich selbst gegenüber, empfand ich schon immer als bizarr. Meine Entscheidung, Heinz zu verstecken, fiel deshalb leicht.

Rainer Maria Rilke hätte das auch getan, glaube ich:

Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!
Sie zu halten, wäre das Problem.
Denn, wen ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben,
wo ein endlich Sein in alledem? …

Und Erich Kästner erst:

Denkt an das fünfte Gebot:
Schlagt eure Zeit nicht tot!

Von Wegen und Wörtern

„Die früheste Form des Weges ist der Trampelpfad. Ein Pfad ist seinem Wesen nach nicht planvoll angelegt, sondern das Resultat regelmäßiger Verwendung: Wege zeichnen also einerseits mögliche Routen vor – und andererseits verdanken sie ihre Existenz der Tatsache, dass sie beschritten und instand gehalten werden. Darin ähneln sie der Sprache, die ebenfalls gangbare Äußerungs- und Denkmöglichkeiten vorzeichnet, dabei aber auf kontinuierlichen Gebrauch angewiesen ist. Wege wie Wörter sind ständigem Wandel unterworfen: Ihre Zielrichtung kann sich ändern, sie können sich verengen oder verbreitern – und wenn sie nicht mehr verwendet werden, verschwinden sie allmählich und geraten schließlich in Vergessenheit.“

Aus: Florian Werner „Auf Wanderschaft. Ein Streifzug durch Natur und Sprache“, Berlin 2019

700 Kilometer von hier

Die Italienerin hatte es schon vor vielen Jahren in den Norden Europas gezogen. Zuerst nach Deutschland, dann in die Niederlande. Der Arbeit wegen. Der Liebe wegen.

Der Holländer wurde im Westen sozialisiert, wie er sagt. Der Westen, das ist Amsterdam. Und Rotterdam. Da sind sie offener als hier im Norden, findet er. Und optimistischer. Hier im Norden, das ist Groningen.

Die Deutsche, die für ein paar Tage zu Besuch bei den Nachbarn weilt und bisher keinen Anlass hatte, über mangelnde Zugewandtheit zu klagen, schreibt Amsterdam und Rotterdam auf die unendliche Liste (endlich mal wieder) zu besuchender Orte.

Die Argentinierin schüttelt die roten Locken, ein Erbe der niederländischen Mutter, und lacht. Sie ist 700 Kilometer südlich von Buenos Aires groß geworden. Sie sagt das, als handele es sich um einen Vorort.

700 Kilometer von „hier im Norden“, da bist du im übernächsten Land. In Paris. In Basel. In Prag. Oder in London….

Während sie drüben zum x-ten Mal über die x-te Exit-Variante abstimmen und Einigkeit schon lange nur noch im Nein erzielen, klappt die Verständigung auf dieser Seite der Nordsee gut. Die Vier sind längst nicht immer einer Meinung darüber, wie die Welt zu retten sei. Aber sie sprechen eine Sprache. Englisch übrigens.

Für immer Rosalía

Als ich zeitgleich mit der Señora Castro die Anhöhe erreichte, hockte der Bauer Iglesias Castro schon dort. Auf einem Stein, neben seinem Pferdefuhrwerk, als kennte er weder Woher noch Wohin. Auch das Pferd verspürte offenbar keine Eile. Mit halb geschlossenen Augen döste es in den nordspanischen Frühlingstag. Dann und wann schlug es mit dem Schweif eine lästige Fliege fort. Als die Señora und ich das Stillleben aus Mann und Ross erreichten, hatten wir noch kaum ein Wort gewechselt. Nicht viel mehr als „Buen camino!“, „Guten Weg!“, den Standardgruß aller Jakobspilger. Eine Anhöhe ist ein guter Ort, um einen Moment innezuhalten, sich umzuschauen – und ein paar Worte zu wechseln, wenn es sich gerade so ergibt.

Im Laufe unserer kurzen Unterhaltung stellte sich heraus, dass die Señora und der Bauer denselben Namen tragen: Castro. Dass der Bauer so heißt, ist nicht weiter verwunderlich. Der Name ist in Nordspanien ungefähr so verbreitet wie Müller oder Meier in Norddeutschland. Die Señora dagegen hatte schon die halbe Welt durchmessen, um einem der vielen Pilgerwege ins galicische Santiago de Compostela zu folgen. Ihre Reise begann im fernen Uruguay. Dort ist die alte Dame mit dem flotten grauen Bubikopf zu Hause. Und gleichzeitig begann die Reise praktisch um die Ecke, denn drei ihrer Großeltern stammen aus Galicien, der vierte aus dem Baskenland. Als junge Menschen hatten sie wie so viele andere das Land verlassen, um in Südamerika ihr Glück zu suchen.

Nur wenige Kilometer weiter, in dem Städtchen Padrón, sollte ich der nächsten Señora Castro begegnen, die allerdings wohl nur ich so nenne. Und das auch nur in Gedanken, denn die Señora ist schon eine Weile tot. Aber eigentlich stimmt auch das nicht. In den Herzen ihrer Landsleute ist sie nämlich sehr lebendig. Ebenso wie der Apostel Jakobus, dessen Leichnam der Legende zufolge per Schiff von Jerusalem nach Padrón befördert wurde, bevor er in der Kathedrale von Santiago 25 Kilometer weiter nördlich seine letzte Ruhe fand. In Padrón, das ansonsten vor allem für seine megaleckeren in Öl gebratenen grünen Paprika (Pimientos de Padrón) bekannt ist, verbrachte die Dichterin Rosalía de Castro (1837-1885) ihre letzten Lebensjahre. Später lebte dort außerdem noch der Nobelpreisträger Camilo José Cela (1916-2002), einer der bekanntesten spanischen Schriftsteller. Der steinerne Cela markiert das eine Ende des mit wunderschönen alten Platanen bestandenen Paseo de Espolon am Ufer des Sar, die steinerne Rosalía das andere. In ihrem Rücken, unter dem Altar der Iglesia de Santiago, befindet sich der Stein, an dem einst das Boot mit dem enthaupteten Apostel an Bord am Flussufer festgemacht haben soll und nach dem die Stadt ihren Namen erhielt.

All die steinernen Zeugen vor Augen, all die Geschichten im Kopf, die historisch belegten ebenso wie die anderen, erreichte ich die nächste Anhöhe. Zeit, für einen Moment innezuhalten. Ein Mann auf dem Feld am Wegesrand hörte bereitwillig auf zu graben, stützte sich auf seinen Spaten und begann, kaum hatte ich Padrón erwähnt, von Rosalía zu schwärmen, wie sie dort alle nennen, und von ihren wunderbaren Texten. Er gab mir auch gleich eine Kostprobe, auf gallego natürlich. Denn das ist ja gerade das Tolle an Rosalía, dass sie einen Teil ihres Werks in der galicischen Landessprache verfasste und dieser damit zu literarischer Bedeutung verhalf – allen voran die „Cantares Gallegos“, die galicischen Lieder. Für mich übersetzte er die Zeilen freundlicherweise noch ins kastilische Spanisch. Ich weiß noch, dass es um die Landschaft ging und diese Mischung aus Melancholie und Sehnsucht, die den Menschen in diesem Teil der Welt eingeboren zu sein scheint. Kurz sprach ich den Mann auf den zweiten berühmten Autor Padróns an: Camilo José Cela. Den mochte er offenbar nicht, ein „bruto“ sei das gewesen, das wüssten alle in der Gegend. Und schon war er wieder bei Rosalía, der Vielgeliebten. Mit leuchtenden Augen nahm er mir das Versprechen ab, etwas von ihr zu lesen, in welcher Sprache auch immer. Die deutsch-spanische Ausgabe des Lyrikbandes „An den Ufern des Sar“ habe ich inzwischen bestellt. Beim Herumschmökern im Internet stellte ich im Übrigen fest, dass auch der Kollege Cela offenbar große Stücke auf Rosalía de Castro hielt (siehe dazu die interessante Website „Rosalía auf Deutsch“ von Christian Switek).

Rosalía blieb mir treu auf meinem Weg durch Galicien. An den Ufern des Lires, nur einen Steinwurf vom tosenden Atlantik entfernt, stehen sogar Tafeln mit Versen der Dichterin – am Fluss, vor dem Friedhof, neben der Kirche. Idyllisch sieht das aus. Kaum mag man glauben, wie arm auch das Dorf Lires mit seinen hübschen alten Steinhäusern noch vor gar nicht langer Zeit gewesen sein muss. Oder ist es Zufall, dass in praktisch jedem Gespräch von Familienangehörigen die Rede ist, die bis in die 1960er Jahre nach Südamerika auswanderten? Nach Argentinien vor allem, aber auch nach Uruguay, wie die Großeltern der anderen Señora Castro. Der Vater von Raúl ebenso wie die Vettern von José. Die Vettern waren zum Teil erst 15, als sie die lange Reise ins Ungewisse antraten. José dagegen war mit 12 Jahren zum ersten Mal in der Stadt, im nur neun Kilometer entfernten Cee. Für die kurze Reise hatte zuvor einfach keine Notwendigkeit bestanden. Es ist wohl so, wie der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano schreibt: „Das Beste der Welt liegt in den vielen Welten, die die Welt enthält, den ganz verschiedenen Melodien des Lebens, seinen Schmerzen und vielerlei Schattierungen: den tausendundeinen Arten, zu leben und zu lieben, zu glauben und zu schaffen, zu essen, zu arbeiten, zu tanzen, zu spielen, zu reden, zu leiden und zu feiern, die wir im Laufe von Tausenden und Abertausenden von Jahren entdeckt haben.“

Ein Schloss, ein Wort

So viele Arten gibt es, Moin! zu sagen. Kurz und entschieden grüßt der Hamburger: Moin!

Zweisilbig, leicht singend begegnen sich die Menschen an der Flensburger Förde: Mo-oin! Zwischen den Silben vergeht eine kleine Ewigkeit, die von großer Gelassenheit spricht. Wo du so gegrüßt wirst – und es grüßt wirklich fast jeder –, da lass dich nieder.

Auch jenseits der Grenze, im südlichen Dänemark, sagt man: Mojn! Nach der Abtretung Nordschleswigs 1920 an Dänemark, lese ich bei Wikipedia nach, wurde im Land ein Mojn-Verbot gefordert; noch in den 1960er Jahren hieß es dort im süddänischen Dialekt „Mojn er forbojn“ („Moin ist verboten“).

Gelegentlich ist der Ganztagsgruß hier im Norden auch doppelt zu hören: Moin Moin! Bei so viel Geschwätzigkeit denke ich automatisch an den Witz von den beiden Anglern. Der eine brachte einen Bekannten mit, der zur Begrüßung freundlich Moin! sagte. Zum Abschied, am Ende eines langen stillen Tages, sagte der andere Angler zu seinem Kumpel: „Den Sabbelbüdel bruks nich wedder mitbringen.“ („Den Schwätzer brauchst du nicht wieder mitzubringen.“)

In diesem Sinne: Moin!

So viele Arten gibt es, Moin! zu sagen. So viele, ein Schloss zu sehen. An einem eisblauen Sonnentag in Glücksburg. „Hoffentlich war das nicht schon unser Sommer“, sagt mit norddeutschem Humor die Hotelbetreiberin.

Orientierungshilfe

Hamburg hat über 2500 Brücken. Mehr als Venedig und Amsterdam zusammen, sagt das städtische Marketing. Sechs von ihnen will ich euch kurz vorstellen. Besonders schön sind sie nicht, aber… nun ja: besonders. Als erstes fiel mir die Braune Brücke auf. Da hatte ich die Grüne schon ungezählte Male passiert, auf dem Weg in die Vier- und Marschlande, Hamburgs Gemüsegarten. Und auch die Schwarze unmittelbar vor den Elbbrücken. Nur eben nicht mit Bewusstsein.

Die Braune Brücke nahm ich wahr. Sie verbindet die alten Arbeiterviertel Hamm im Norden und Rothenburgsort im Süden. Und sie führt mitten hinein in ein kleines Paradies, über das ich hier schon geschwärmt habe. Mein liebstes Hausboot, lila und wunderbar nostalgisch, liegt nur einen Steinwurf entfernt. Und auch sonst war neulich, als die Sonne überraschend kräftig vom blauen Himmel lachte, einiges los an der Bille. Aber das ist eine andere Geschichte.

Hier geht es um die sechs farbigen Brücken, die den Nebenfluss der Elbe in seinem schiffbaren Unterlauf überspannen: rot, gelb und blau, braun, grün und schwarz. Die erste und zugleich älteste ist die Rote Brücke, die tatsächlich eher rosa ist, unterhalb von Kirchsteinbek. Über die Gelbe und die Blaue Brücke erreicht man Billbrook mit seinen vielen kaum noch befahrenen Kanälen – eine der größten Industrieflächen Hamburgs, auf der aber auch so wunderbare Zeitzeugen wie das Kaiserliche Postamt nahe der Roten und das Alte Metallwalzwerk nahe der Gelben Brücke überlebt haben.

Was es mit der Farbenlehre auf sich hat? Nun, man wollte den vielen ausländischen Arbeitern, die schon im 19. Jahrhundert in Hamburg lebten, die Orientierung erleichtern und strich die Geländer und  – bei dem Verkehr, der früher auf der Bille und den Kanälen herrschte, vielleicht noch wichtiger – auch die Unterseiten der Brücken in verschiedenen Farben an.

Eine schöne Vorstellung, dass „Brücke“ zu den ersten Worten gehört haben mag, die ein Fremder einst in Hamburg lernte!

P.S. Die ganz oben abgebildete blaue Brücke ist übrigens nur eine blaue Brücke über die Bille, verwirrenderweise angesiedelt zwischen der Roten und der Gelben, aber sie ist mit ihrem Bogen einfach schöner als die Blaue, die man stromabwärts im Anschluss an die Gelbe passiert. Noch Fragen?

Fiktive Welten

„Was ist eigentlich Fiktion?“, wollte S. wissen. S. kam vor wenigen Jahren aus Afghanistan nach Hamburg und spricht inzwischen bemerkenswert gut Deutsch.

In der Gesprächsgruppe für MigrantInnen und Flüchtlinge hatten wir gerade lange über die Bedeutung von zwei Sätzen nachgedacht. Der eine stammt von dem amerikanischen Automobilproduzenten Henry Ford: „Ob du denkst, du kannst es, oder du kannst es nicht: Du wirst auf jeden Fall Recht behalten.“ Der Verfasser des anderen ist (mir) nicht bekannt: „Nicht weil es zu schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es zu schwer.“ Das Gespräch war lebhaft gewesen und wir hatten einige Beispiele zusammengetragen, wie unser Denken unser Handeln bestimmt und wie toll es sich anfühlt, wenn man seine Angst besiegt hat.

Jetzt also wollte S. wissen: „Was ist eigentlich Fiktion?“ Super, dachte ich, nach der Philosophiestunde gleich noch eine Runde Literatur! Ich hielt einen Mini-Vortrag, den man unter die Überschrift „Dichtung und Wahrheit“ stellen könnte und in dem die Worte „ausgedacht“ und „wirklich passiert“ tragende Rollen spielten. S.’ Gesichtsausdruck wurde immer skeptischer. Am Ende zog er ein Stück Papier mit einem Stempel darauf aus der Tasche. „Fiktionsbescheinigung“ stand ganz oben. Was für ein feiner Kandidat für eine Fortschreibung von Mark Twains Sammlung über „Die Schrecken der deutschen Sprache“! Das Papier, sagte S., müsse er wie einen Pass vorzeigen. Was eine Bescheinigung ist, weiß er natürlich. Und ich weiß spätestens jetzt, dass Theorien, die Fiktion im Gegensatz zu Wahrheit und/oder Realität verorten, gelegentlich selbst eine Fiktion sind.

P.S. Eine so genannte „Fiktionsbescheinigung“ ist ein Titel aus dem Aufenthaltsrecht. Sie wird von der Ausländerbehörde benutzt, um die Zeit zu überbrücken, in der die Behörde nicht über einen Antrag z.B. auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis entscheiden kann oder will. Die eigentlich abgelaufene Erlaubnis gilt dann bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde weiter.

Ein Pott voll Worte

p1170212„Da bisse vonne Socken!“ tönt es in diesem typischen Singsang, kaum habe ich in der S-Bahn Richtung Köln-Nippes Platz genommen. „Hömma!“ ergänze ich im Geist (unvollkommen die Landesmutter imitierend) und muss grinsen. „Schantall, tumma die Omma winken!“ Das hat die Frau natürlich gar nicht gesagt, die in der Sitzgruppe schräg hinter mir mit der einen Hand das Smartphone ans Ohr und mit der anderen den Hackenporsche an die Fußknöchel presst, während sie ohne Punkt und Komma melodisch auf ihr unsichtbares Gegenüber einredet. Tatsächlich findet sie, dass es gut wäre, wenn der (oder die?) erstmal mit dem Matthias reden würde. Aber das, finde wiederum ich, ergibt einfach keine Geschichte. Ob auswärtige Besucher meiner Heimatstadt Hamburg sich wohl manchmal wie im Ohnsorg-Theater fühlen?

Schöne Aussichten

P1140990Hunde anleinen, keine Kälber streicheln, nicht mit dem Wanderstock vor den Mäulern der Kühe herumfuchteln: Die Hinweise zum schonenden Queren von Viehweiden an der Tür der Almhütte sind von wünschenswerter Deutlichkeit, auch wegen der lustigen Zeichnungen zu den Texten. Aber was darüber geschrieben steht, liest man als Flachlandtirolerin wohl am besten laut, um es zu verstehen:

„Saiwagmachts! Oimkas zum midnema“.

P1140986Weil wir schon eine Weile unterwegs sind und für eine zünftige Brotzeit ohnehin immer der richtige Zeitpunkt ist, verzehren wir den selbstgemachten Almkäse – Hartkäse, Frischkäse, mit und ohne Marinade – gleich auf der Bank vor der Hütte, mit Blick auf Kühe und Berge. So lecker! Und dazua a Topfenbrot, do legst di hi. (Liebe M., ich hoffe, ich habe das einigermaßen fehlerfrei niedergeschrieben.) Mich hat der Quark-Hefeteig der Sennerin schon deshalb umgehauen, weil er ganz genauso schmeckte wie das süße Brot, das meine Großmutter an besonderen Tagen gebacken hat. Nur dass es dazu keinen Kas sondern Marmelade gab. So rot wie die Saftschorle auf der Alm. Erdbeeren und Kirschen bei Oma, Johannisbeere am Berg.

P1150182Aber bevor ich ins Schwätzen komme, geht’s jetzt mal weiter, auffe

P1150258„kennst di aus, woaßt eh was i moan
a berig is nix anders wia a mordstrumm stoan
aber obn auf’n gipfel des sag i allemal
is viel schener wia drunten im tal“

P1150030Die vorstehenden Zeilen des österreichischen Liedermachers Hubert von Goisern habe ich eins zu eins seiner Website entnommen. Nach Abschluss des Basiskurses in Oberbayrisch packte mich zwar der sprachliche Ehrgeiz (kritische Geister würden es wahrscheinlich Übermut nennen), zumal ich von den Gipfeln bei günstiger Witterung freie Sicht über die Grenze hatte, aber sicher ist sicher.

P1150020Drunten im Tal war es übrigens – von Goisern hin oder her – aa narrisch schee. Dazu ein andermal mehr.

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Die Ankunft

Kein Mensch ist zu sehen, als ich die schwere Eingangstür des ehemaligen Hotels aufziehe. „Tür immer geschlossen halten“ lese ich, als ich mich umdrehe, um die Tür zu schließen. Leider nirgends ein Hinweis auf die Veranstaltung, zu der ich angemeldet bin. Nicht so toll organisiert! schießt es mir durch den Kopf. Immer noch ist niemand zu sehen. Unschlüssig drehe ich mich einmal um die eigene Achse, als aus dem Untergeschoss leise Stimmen heraufdringen. Ah, dort also! Eine Treppe tiefer lehnen Frauen und Männer an den Wänden, schemenhaft zu erkennen durch eine weitere Tür, dieses Mal aus Glas, die „immer geschlossen“ zu halten ist. „Hallo“, sage ich. „Bin ich hier richtig…?“ Eine Frage, die so oder so ähnlich auch die stellen, die nach mir eintreffen. Einige der Anwesenden nicken. „Ich glaub schon“, kichern ein paar, während sie das Gewicht einmal mehr auf den anderen Fuß verlagern. Wo nur die Referentin bleibt! Schon zehn Minuten über der Zeit! „Da hätte ich mich mit dem Frühstück nicht so beeilen müssen“, sagt die grauhaarige Dame neben mir.

Wieder geht die Glastür auf. Eine kleine Frau im schwarzen Mantel betritt den Flur. Einen kleinen schwarzen Rollkoffer hinter sich herziehend eilt sie durch das Spalier der Wartenden – und ist auch schon hinter der Tür am Ende des Gangs verschwunden. Was war das denn jetzt? Irritierte Blicke wandern hin und her. Die Gespräche sind schon seit ein paar Minuten verstummt. Schließlich wird die Tür am Ende des Gangs geöffnet. Zögernd treten wir einer nach dem anderen in den Raum dahinter. Ich mag meinen Augen kaum trauen. Was für ein Durcheinander! Gleich links sieht es so aus, als hätte dort ein Sitzkreis entstehen sollen, aber was machen dann all die Tische und Stühle, die nach keiner erkennbaren Ordnung über den Rest des Raums verteilt sind? Einzelne Tische und Stühle. Stühle an Tischen. Stühle, die nach vorne zeigen. Stühle, die nach hinten zeigen. Aber wo ist eigentlich hinten und wo vorn? Gibt es irgendwo eine Mitte? Und was sollen wir tun?

Zwei meiner Mitstreiterinnen haben schweigend in dem angedeuteten Sitzkreis Platz genommen, ein Mann setzt sich auf einen der einzelnen Tische. Ich entscheide mich für einen Stuhl an dem Tisch vor der Säule. Gegenüber lässt sich gerade eine Frau mittleren Alters nieder. Wir schauen in dieselbe Richtung, ohne ein Wort zu wechseln. Am Fenster steht die kleine Frau. Den schwarzen Mantel hat sie inzwischen abgelegt, vermeidet aber weiter jeden Blickkontakt. Jetzt dreht sie sich um, eine Rolle Kreppband und einen Edding in der einen und ein Blatt Papier mit einer hufeisenförmigen Grafik darauf in der anderen Hand. Sie zeigt auf das Papier, dann auf die eigene Brust. Sie reisst ein Stück von dem Kreppband ab, schreibt etwas darauf und klebt den Streifen auf ihren Pulli. Ah, alles klar! Unseren Namen sollen wir aufschreiben. Die Ersten legen gleich los.

Aber halt, da war doch dieses Papier mit dem Hufeisen… In einem äußeren Halbkreis sind Zeichnungen zu erkennen: eine Lampe, ein Schiff, ein Affe, eine Uhr, ein Krokodil, eine Maus, eine Zange… und in einem kleineren inneren Kreis daneben Zeichen, die entfernt an Hieroglyphen erinnern, nur einfacher. Offenbar eine Schrift. Konzentriert starre ich auf das Blatt, noch ist der Groschen nicht ganz gefallen. Um mich herum ist es mucksmäuschenstill. Ob wir wohl…? Vorsichtshalber werfe ich noch einen Blick auf den Busen der kleinen Frau. Tatsächlich, auf dem Kreppband sind einige der hieroglyphenartigen Zeichen zu erkennen! Wir sollen unseren Namen schreiben, aber in der fremden Schrift – heureka! Noch einmal schaue ich mir die Bilder an. Maus – Affe – Rad – Esel – Nuss – Maren. Jetzt noch rasch die zugehörigen Zeichen aufs Kreppband malen, aufkleben, fertig! Puh, geschafft!

Von wegen! Jetzt fängt die kleine Frau an zu sprechen. Aber was sagt sie? Ich verstehe kein Wort. Auch in ihrem Gesicht ist nichts zu erkennen. Ihre Miene ist vollkommen unbewegt, während sie immer weiter spricht. Endlich die Andeutung eines Lächelns. Sie zeigt auf sich, sagt ein paar Laute in der fremden Sprache. Dann zeigt sie auf die Frau mir gegenüber, sagt ein paar Laute, die so ähnlich klingen, nur dass sie am Ende die Stimme hebt. Einmal, zweimal wiederholt die kleine Frau die Prozedur, dann hat meine Nachbarin verstanden: Sie wiederholt den ersten Minisatz und fügt am Ende hinzu: „Anna“. Die kleine Frau lächelt, zum ersten Mal richtig. Nicht alle sind so schnell wie meine Nachbarin. Während einige noch mit dem Minidialog „Ich heiße… Wie heißt du?“ beschäftigt sind, hat die kleine Frau längst weitere Frage-und-Antwort-Sätze eingeführt. „Wie geht es dir? … Mir geht es…“ „Ich bin … Jahre alt. … Wie alt bist du?“ Das Befinden wird durch lebhaftes Mienenspiel angezeigt, das Alter durch in die Höhe gereckte Finger. Die alte Dame, die sich so mit dem Frühstück beeilt hatte, zeigt sieben Mal alle zehn Finger vor und noch ein paar extra.

Der Mann ein paar Tische weiter versteht nicht, dass auch er gerade nach seinem Alter gefragt wird und schweigt beharrlich. Die kleine Frau wiederholt die Frage, der Mann schweigt. Eine Frau gibt ihm Handzeichen, er reagiert nicht. „Dein Alter sollst du sagen“, platzt es schließlich aus ihr heraus. Warum eigentlich hat ihm das keiner von uns ruhig gesagt? Immerhin sprechen wir dieselbe Sprache, und es hat uns auch niemand verboten, sie zu benutzen. – Schnitt. Noch nicht einmal eine halbe Stunde des Seminars über interkulturelle Kommunikation in der Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten ist vergangen und wir haben am eigenen Leib erfahren: Man wird nicht als Ausländer geboren.