The Art of Glass

„Photography? Yes please!“ Herzlicher könnte das Willkommen nicht sein. Und was gibt es nicht alles zu sehen – und zu fotografieren – in der aktuellen Sonderausstellung des Groninger Museums: Schwimmkörper japanischer Fischernetze, Blüten und Pflanzen, Muscheln, indigene Decken und Körbe, baumhohe Eiszapfen… – und alles aus Glas. So herzanrührend zart sind die Werke des US-Amerikaners Dale Chihuly und seines Teams aus Glaskünstlern, so bunt und überbordend verspielt, so genau beobachtet und präzise in der Ausführung, so großartig arrangiert, dass es eine helle Freude ist. Die Ausstellung auf der Museumsinsel gegenüber vom Groninger Hauptbahnhof läuft noch bis zum 5. Mai. Sehr empfehlenswert!

Spiegelungen

„Beliebiger Tag, beliebiger Ort. Damit will ich sagen, ich hätte auch jemand anderer sein können, in einer anderen Stadt, an einem anderen Tag. …

An der gegenüberliegenden Straßenecke ist noch ein Café. Ich weiß nicht, warum ich nicht dort Platz genommen habe. Es ist ein Spiegelbild dieses Cafés, vielleicht sitze ich da ja auch. …

An der Wand hängt ein leicht gekippter Spiegel, so dass ich die Welt draußen noch einmal sehe, diesmal als schiefe Ebene. …

Die Straße vor dem Fenster ist mit kleinen Steinen gepflastert. …

Die Bahn muss hier einst um die Kurve gefahren sein, doch jetzt enden die Gleise im Nichts. Dennoch höre ich das Geräusch dieser um die Kurve kommenden, nicht mehr existierenden Straßenbahn, ein Geräusch in Sepia, wie auf alten Fotos. …

Als ich gehe und mich noch einmal nach meinem leeren Stuhl umblicke, ist es nicht sicher, dass ich dort gesessen habe.“

Die Sätze des niederländischen Autors Cees Nooteboom habe ich aus dem Kapitel „Nilpferd“ seiner „Briefe an Poseidon“ (Berlin 2012) geschnipselt. Sie erzählen von einem anderen Tag an einem anderen Ort und scheinen mir doch ein guter Spiegel für die Bilder von der Groninger Waterkant zu sein.

700 Kilometer von hier

Die Italienerin hatte es schon vor vielen Jahren in den Norden Europas gezogen. Zuerst nach Deutschland, dann in die Niederlande. Der Arbeit wegen. Der Liebe wegen.

Der Holländer wurde im Westen sozialisiert, wie er sagt. Der Westen, das ist Amsterdam. Und Rotterdam. Da sind sie offener als hier im Norden, findet er. Und optimistischer. Hier im Norden, das ist Groningen.

Die Deutsche, die für ein paar Tage zu Besuch bei den Nachbarn weilt und bisher keinen Anlass hatte, über mangelnde Zugewandtheit zu klagen, schreibt Amsterdam und Rotterdam auf die unendliche Liste (endlich mal wieder) zu besuchender Orte.

Die Argentinierin schüttelt die roten Locken, ein Erbe der niederländischen Mutter, und lacht. Sie ist 700 Kilometer südlich von Buenos Aires groß geworden. Sie sagt das, als handele es sich um einen Vorort.

700 Kilometer von „hier im Norden“, da bist du im übernächsten Land. In Paris. In Basel. In Prag. Oder in London….

Während sie drüben zum x-ten Mal über die x-te Exit-Variante abstimmen und Einigkeit schon lange nur noch im Nein erzielen, klappt die Verständigung auf dieser Seite der Nordsee gut. Die Vier sind längst nicht immer einer Meinung darüber, wie die Welt zu retten sei. Aber sie sprechen eine Sprache. Englisch übrigens.

Fietsen und Plastiken

Was im niederländischen Groningen sofort ins norddeutsche Auge springt, sind die Massen an Fahrrädern, die in Affenzahn vor, hinter, links und rechts neben einem vorbeisausen. Ungefähr eine Stunde lang sprang ich munter hin und her und dabei auch immer mal wieder einem Radler in den Weg, dann hatte ich mich eingegroovt. Erklären könnte ich das System der Kollisionsvermeidung nicht. Es ist ein bisschen so, wie eine der vielbefahrenen Straßen in Saigon oder Hanoi zu queren. Nur ganz anders. Während ich in Vietnam mit einer Art intuitivem Reißverschlussprinzip ohne direkten Augenkontakt zu den anderen Verkehrsteilnehmern gut fuhr respektive ging, empfehle ich, in Groningen unbedingt die Augen offen zu halten.

In erstaunlicher Parallelität zu meiner eigenen Gewöhnung sah ich gleich in den ersten zehn Minuten meines mehrtägigen Aufenthalts in der Stadt zwei Unfälle, bei denen zum Glück kein größerer Schaden entstand, danach keinen mehr: Nummer eins zwischen zwei fietsen und Nummer zwei zwischen einem fiets und einem bromfiets, oder wie immer der Singular von Fahrrädern und Motorrädern in diesem wunderbar bildhaften Niederländisch gebildet wird. Herzlich lachen musste ich über die von mir so getaufte Plastik „Vater bringt Sohn das Fahrradfahren bei“. Das scheint mir ähnlich überflüssig zu sein wie Tanzunterricht für Erwachsene in Andalusien, wo schon die Allerjüngsten ihren Windelpopo gekonnt zu den Klängen der Flamenco-Gitarren drehen.

Noch ganz in Gedanken an die kleinen Sevillanas-Prinzessinnen fiel mein Blick am Zuiderhaven gleich auf das nächste Hinterteil. Mächtig wölbt es sich neben dem Apartmenthochhaus De Regentes an der Emmasingel in die Luft und enthält auf den zweiten Blick doch vor allem selbst: viel Luft. Tatsächlich wirkt der Körper der Dame in dem ausladenden metallenen Kleid beinahe schmächtig, scheint sie der meterlangen Stützen in Verlängerung der Arme zu bedürfen, um Haltung zu bewahren. Ihr Gesicht mit den überdimensionalen Wimpern indes verrät keine Schwäche. Vielleicht, weil die Künstlerin Silvia B. auch an die Regentin Emma dachte, als sie die Plastik Ultra schuf? Die zweite Frau des 41 Jahre älteren Wilhelm III., König der Niederlande, eine Geborene zu Waldeck und Pyrmont, übernahm nach dessen Tod die Regentschaft für ihre Tochter Wilhelmina, bis diese 1898 achtzehn Jahre alt geworden war und verfassungsmäßig selbst den Thron besteigen konnte.

Nur wenige hundert Meter weiter – ich denke mir das wirklich nicht aus! – streckte mir ein weißes Pferd den Allerwertesten entgegen, während es ungerührt auf der schiefen Ebene vor dem Hauptbahnhof graste. Dabei ist der wirklich wunderschön. Aber Pferde haben bekanntlich andere Prioritäten als Menschen…

Wobei: Essen müssen auch Menschen. Eine Portion superleckere superfrische friet zum Beispiel. In Groningen empfehle ich die Einnahme im Frietwinkel – auch weil man die Frittentüte in diese superpraktische Halterung vor sich stellen kann, während man beim Futtern schaut, wer so alles vorbeispaziert oder -radelt.

Gegenüber wirbt ein anderer winkel für französische Wurstwaren. Und zwischen den beiden Geschäften erstreckt sich eine Straße mit lauter rosafarbenen Häusern, in denen Frischfleisch ganz anderer Art angeboten wird. Den Männern, die mir begegneten, als ich neugierig hindurchschlenderte, schien es nicht im Mindesten peinlich zu sein, gesehen zu werden.

Ich hatte inzwischen die straaten und straatjes mit ihren verschachtelten Höfen südlich vom Grote Markt erreicht. In den hofjes fanden früher Witwen, Kranke, Arme, Waisen und Pilger eine Bleibe. Jedes hofje hat seine eigene Geschichte. In dem 1405 gegründeten St. Geertruids Gasthuis in der Peperstraat zum Beispiel konnte man, wie ich auf der Website von Geo Reisen nachlas, einst am Sonntag Gekken kieken: Gegen Bezahlung durften Besucher durch das Gitter die „Irren“ begaffen, die hier untergebracht waren. Heute sind die Häuser begehrte Mietobjekte. Und wenn nicht gerade Touristen zum „Kieken“ kommen, ist der grüne Hof eine Oase der Ruhe.

Auf der anderen Seite der Mauer, die zum Ältesten zählt, was Groningen zu bieten hat, fand gerade ein Fotoshooting statt, das viel Sinn für Humor verriet und natürlich ebenfalls zum Kieken und zu einem kleinen Schwätzchen einlud.

Gleich um die Ecke fesselte ein Grafitto mit einem nackten Mann und einer nackten Frau, die zwei Busse zur Seite schieben, meine Aufmerksamkeit. Ich hatte die Szene kaum erfasst, als sich auch schon ein Lastenfahrrad ins Bild schob. Wenn es noch eines Belegs bedurft hätte, dass ich mich in einer der fahrradfreundlichsten Städte dieser Erde befand: hier war er.