Kein Mensch ist zu sehen, als ich die schwere Eingangstür des ehemaligen Hotels aufziehe. „Tür immer geschlossen halten“ lese ich, als ich mich umdrehe, um die Tür zu schließen. Leider nirgends ein Hinweis auf die Veranstaltung, zu der ich angemeldet bin. Nicht so toll organisiert! schießt es mir durch den Kopf. Immer noch ist niemand zu sehen. Unschlüssig drehe ich mich einmal um die eigene Achse, als aus dem Untergeschoss leise Stimmen heraufdringen. Ah, dort also! Eine Treppe tiefer lehnen Frauen und Männer an den Wänden, schemenhaft zu erkennen durch eine weitere Tür, dieses Mal aus Glas, die „immer geschlossen“ zu halten ist. „Hallo“, sage ich. „Bin ich hier richtig…?“ Eine Frage, die so oder so ähnlich auch die stellen, die nach mir eintreffen. Einige der Anwesenden nicken. „Ich glaub schon“, kichern ein paar, während sie das Gewicht einmal mehr auf den anderen Fuß verlagern. Wo nur die Referentin bleibt! Schon zehn Minuten über der Zeit! „Da hätte ich mich mit dem Frühstück nicht so beeilen müssen“, sagt die grauhaarige Dame neben mir.
Wieder geht die Glastür auf. Eine kleine Frau im schwarzen Mantel betritt den Flur. Einen kleinen schwarzen Rollkoffer hinter sich herziehend eilt sie durch das Spalier der Wartenden – und ist auch schon hinter der Tür am Ende des Gangs verschwunden. Was war das denn jetzt? Irritierte Blicke wandern hin und her. Die Gespräche sind schon seit ein paar Minuten verstummt. Schließlich wird die Tür am Ende des Gangs geöffnet. Zögernd treten wir einer nach dem anderen in den Raum dahinter. Ich mag meinen Augen kaum trauen. Was für ein Durcheinander! Gleich links sieht es so aus, als hätte dort ein Sitzkreis entstehen sollen, aber was machen dann all die Tische und Stühle, die nach keiner erkennbaren Ordnung über den Rest des Raums verteilt sind? Einzelne Tische und Stühle. Stühle an Tischen. Stühle, die nach vorne zeigen. Stühle, die nach hinten zeigen. Aber wo ist eigentlich hinten und wo vorn? Gibt es irgendwo eine Mitte? Und was sollen wir tun?
Zwei meiner Mitstreiterinnen haben schweigend in dem angedeuteten Sitzkreis Platz genommen, ein Mann setzt sich auf einen der einzelnen Tische. Ich entscheide mich für einen Stuhl an dem Tisch vor der Säule. Gegenüber lässt sich gerade eine Frau mittleren Alters nieder. Wir schauen in dieselbe Richtung, ohne ein Wort zu wechseln. Am Fenster steht die kleine Frau. Den schwarzen Mantel hat sie inzwischen abgelegt, vermeidet aber weiter jeden Blickkontakt. Jetzt dreht sie sich um, eine Rolle Kreppband und einen Edding in der einen und ein Blatt Papier mit einer hufeisenförmigen Grafik darauf in der anderen Hand. Sie zeigt auf das Papier, dann auf die eigene Brust. Sie reisst ein Stück von dem Kreppband ab, schreibt etwas darauf und klebt den Streifen auf ihren Pulli. Ah, alles klar! Unseren Namen sollen wir aufschreiben. Die Ersten legen gleich los.
Aber halt, da war doch dieses Papier mit dem Hufeisen… In einem äußeren Halbkreis sind Zeichnungen zu erkennen: eine Lampe, ein Schiff, ein Affe, eine Uhr, ein Krokodil, eine Maus, eine Zange… und in einem kleineren inneren Kreis daneben Zeichen, die entfernt an Hieroglyphen erinnern, nur einfacher. Offenbar eine Schrift. Konzentriert starre ich auf das Blatt, noch ist der Groschen nicht ganz gefallen. Um mich herum ist es mucksmäuschenstill. Ob wir wohl…? Vorsichtshalber werfe ich noch einen Blick auf den Busen der kleinen Frau. Tatsächlich, auf dem Kreppband sind einige der hieroglyphenartigen Zeichen zu erkennen! Wir sollen unseren Namen schreiben, aber in der fremden Schrift – heureka! Noch einmal schaue ich mir die Bilder an. Maus – Affe – Rad – Esel – Nuss – Maren. Jetzt noch rasch die zugehörigen Zeichen aufs Kreppband malen, aufkleben, fertig! Puh, geschafft!
Von wegen! Jetzt fängt die kleine Frau an zu sprechen. Aber was sagt sie? Ich verstehe kein Wort. Auch in ihrem Gesicht ist nichts zu erkennen. Ihre Miene ist vollkommen unbewegt, während sie immer weiter spricht. Endlich die Andeutung eines Lächelns. Sie zeigt auf sich, sagt ein paar Laute in der fremden Sprache. Dann zeigt sie auf die Frau mir gegenüber, sagt ein paar Laute, die so ähnlich klingen, nur dass sie am Ende die Stimme hebt. Einmal, zweimal wiederholt die kleine Frau die Prozedur, dann hat meine Nachbarin verstanden: Sie wiederholt den ersten Minisatz und fügt am Ende hinzu: „Anna“. Die kleine Frau lächelt, zum ersten Mal richtig. Nicht alle sind so schnell wie meine Nachbarin. Während einige noch mit dem Minidialog „Ich heiße… Wie heißt du?“ beschäftigt sind, hat die kleine Frau längst weitere Frage-und-Antwort-Sätze eingeführt. „Wie geht es dir? … Mir geht es…“ „Ich bin … Jahre alt. … Wie alt bist du?“ Das Befinden wird durch lebhaftes Mienenspiel angezeigt, das Alter durch in die Höhe gereckte Finger. Die alte Dame, die sich so mit dem Frühstück beeilt hatte, zeigt sieben Mal alle zehn Finger vor und noch ein paar extra.
Der Mann ein paar Tische weiter versteht nicht, dass auch er gerade nach seinem Alter gefragt wird und schweigt beharrlich. Die kleine Frau wiederholt die Frage, der Mann schweigt. Eine Frau gibt ihm Handzeichen, er reagiert nicht. „Dein Alter sollst du sagen“, platzt es schließlich aus ihr heraus. Warum eigentlich hat ihm das keiner von uns ruhig gesagt? Immerhin sprechen wir dieselbe Sprache, und es hat uns auch niemand verboten, sie zu benutzen. – Schnitt. Noch nicht einmal eine halbe Stunde des Seminars über interkulturelle Kommunikation in der Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten ist vergangen und wir haben am eigenen Leib erfahren: Man wird nicht als Ausländer geboren.