Ambrosisch

meistens_alles_sehr_schnell-9783423249010Christopher Kloeble: Meistens alles sehr schnell. Roman. München 2012

Viel Zeit bleibt Albert nicht um herauszufinden, wer seine Mutter ist. Der 19-Jährige ist im Heim aufgewachsen. Fred, zu dem er noch nie Vater gesagt hat, weil Albert sich selbst immer eher wie Freds Vater fühlte, ist todkrank. Fred ist inzwischen über Sechzig, riesengroß und geistig ein Kind. Seine Lieblingslektüre sind Lexika, er zählt mit Begeisterung grüne Autos, und wen oder was er so richtig gern mag, nennt er „ambrosisch“. Albert zieht zu Fred, um dessen letzte Monate gemeinsam zu verbringen und um endlich der eigenen Herkunft auf die Spur zu kommen.

Ohne Einzelheiten zu verraten: Die Geschichte hat es in sich. Sie beginnt in einer Hochsommernacht des Jahres 1912 in der oberbayrischen Provinz und umspannt mit allerlei Vor- und Rückblenden und rasanten Perspektivwechseln fast ein ganzes Jahrhundert. Düstere Geheimnisse, Tabubrüche und Schuld inklusive. Das Buch ist vieles in einem: Familiengeschichte, Dorfchronik und Heimatroman, Krimi und Lovestory. Toll geschrieben, extrem spannend, witzig, traurig, warmherzig. Sehr zu empfehlen!

Mit dem Buch in der Hand…

Time Out Country Walks near London, Volume 1. London 2011

P1030225file_39_2… übers Land: über sanfte Hügel, durch schattige Wälder und sonnensatte Felder der Grafschaft Buckinghamshire. Ausgangs- und Endpunkt meiner Wanderung ist Beaconsfield etwa eine Bahnstunde westlich der Londoner City. Das Städtchen ist stolz auf den ältesten Miniaturpark der Welt und auf die Jugendbuchautorin Enid Blyton, die die letzten 30 Jahre ihres Lebens in Beaconsfield verbracht hat. Ich lasse das Modelldorf links liegen – an die Schriftstellerin erinnert ohnehin nur noch ein Straßenschild –, schließlich habe ich eine ordentliche Strecke Wegs vor mir, das Buch immer in der Hand.P1030524

Der knapp 20 Kilometer lange Beaconsfield Circular ist einer von 52 Country Walks near London, dem ersten der wunderbaren Time Out-Wanderführer durch Südostengland. Das Buch enthält eine Wanderung für jedes Wochenende des Jahrs und eine 53. extra, quasi als eiserne Reserve. So war das Ganze auch mal entstanden: Eine Gruppe von Freunden traf sich jeden Sonnabend zum gemeinsamen Wandern irgendwo zwischen Kent und den Chiltern Hills, zwischen Hampshire und Essex. Landschaftlich reizvoll sollte die Strecke sein, zwischen sieben und 14 Meilen lang, Start und Ziel mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. In irgendeinem netten Pub wollte man zum Lunch einkehren, später nach Möglichkeit noch mal woanders zum Tee. Bald kamen Freunde der Freunde dazu. Das Buch wurde geschrieben… Den Saturday Walkers’ Club gibt es heute noch.

P1030493Mit der ersten Auflage des Wanderführers war ich schon in den 1990er Jahren durch die englische Countryside gestreift. Jetzt hatte ich mir eine aktualisierte Fassung besorgt. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mit einem Fahrradtouren-Buch in Norddeutschland unterwegs war. „Und hinter dem Umspannwerk biegen Sie rechts ab…“, hieß es in der Wegbeschreibung. Dass sie veraltet war, merkte ich, als mich ein Einheimischer darüber aufklärte, dass es das Umspannwerk schon ein paar Jahre nicht mehr gab. Immerhin konnte er mir sagen, wo es sich früher befunden hatte, so dass ich meinen Weg unbeschadet fortsetzen konnte.

P1030499Aber zurück zum Beaconsfield Circular, der auch eine sehr schöne Passage zum Thema enthält. Nach einem Ausrufezeichen in Fettdruck wird der Wanderer ermahnt: „It is easy to get lost during the next 500 metres or so, so please follow these directions carefully. Take the first path sharply to the right, signed by a no-horses symbol on a white-topped post, up into the trees, your direction 140 degrees initially…” Dann über eine „Kreuzung“ – das Ganze spielt in den an diesem Tag lichtdurchfluteten Hodgemoor Woods –, bei nächster Gelegenheit rechts ab durch ein möglicherweise matschiges Wegstück (stimmt), nach 75 Metern links in einen Pfad mit deutlich mehr Grasbewuchs (stimmt auch). Und so weiter. Weitere vier Ausrufezeichen in Fettdruck und doppelt so viele Abzweigungen später habe ich die unmittelbare Gefahrenzone des Verlorengehens erfolgreich hinter mich gebracht. Was für ein Spaß! Und vor Ort auch deutlich weniger verwirrend, als nach der Lektüre zu vermuten war.

P1030518Lunchtime Stop in Merlins Cave in Chalfont St. Giles. Ein kleines Schwätzchen am Tresen, dann arbeite ich mich durch den Dunst des sommersonntäglichen Barbecue in den lauschigen Garten des Lokals vor und entspanne im Schatten hoher Laubbäume, während vom Nachbargrundstück sanfte Jazz-Klänge herüberwehen. Bis ich die vom Time Out-Führer empfohlene Mittagsraststätte erreichte, war ich bereits an vier anderen Pubs und einem indischen Restaurant vorbeigekommen und ordentlich beeindruckt von Anzahl und Auswahl an Einkehrmöglichkeiten. Später beim Klönschnack mit der Nachmittagsaufsicht in der Kirche gleich nebenan erfahre ich, dass die Versorgungslage bis in die jüngere Vergangenheit offenbar noch deutlich besser war. Gerade hätten ein paar Pubs geschlossen. Vielleicht, weil in letzter Zeit zu wenige Amerikaner in Chalfont St. Giles Station gemacht haben. Die sind, wie man mir sagte, nämlich besonders begeistert von dem Dichter und politischen Denker John Milton, zu dessen 400. Geburtstag vor ein paar Jahren das Städtchen ein weithin beachtetes Literaturfestival veranstaltet hat. Milton war 1665 von London nach Chalfont St. Giles gekommen: auf der Flucht vor der Pest, aber auch, weil die Provinz nach Wiedereinführung der Monarchie in England ein sichererer Ort für den überzeugten Republikaner zu sein schien. Dort vollendete Milton auch sein berühmtes episches Gedicht Paradise Lost. („The mind is its own place, and in itself / Can make a heaven of hell, a hell of heaven.” – Book 1)

P1030504P1030545Miltons Cottage an der Hauptstraße, das heute ein Museum beherbergt, unter anderem mit der Erstausgabe von Paradise Lost, hatte der Quäker Thomas Ellwood für den Dichterfreund aufgetan. Kein Zufall: Nur wenige Kilometer später führt mich mein Weg am Friends Meeting House auf dem Grund der Old Jordans Farm vorbei, die ab dem 17. Jahrhundert von Quäkern bewirtschaftet wurde. Auf dem Friedhof neben dem Gemeindehaus sind Hunderte Angehöriger dieser Glaubensgemeinschaft begraben, darunter auch William Penn, Gründer von Pennsylvania, dem einzigen Quäker-Staat, der jemals existiert hat. Seit dem frühen 20. Jahrhundert finden wieder regelmäßig Versammlungen in dem Meeting House statt, das Dorf Jordans entstand…

Was für eine geschichtsträchtige Wanderung! Und dazwischen schönstes Buckinghamshire.

Letzte Paradiese

phpThumb_generated_thumbnailjpgSebastião Salgado: Genesis. Köln 2013

Mein allerbester guter Freund meint, es sei ja wohl ein bisschen dünn lediglich mitzuteilen, dass ich die Bilder von Sebastião Salgado „überirdisch schön“ fand. Schließlich sei ich wegen der Ausstellung nach London gereist. Ursprünglich jedenfalls. Yep, Recht hat er. Also gibt’s noch einen Nachtrag. Um all die Superlative zu bändigen, die mir bei der Erinnerung an die mehr als 200 großformatigen Schwarz-Weiß-Fotos in den Kopf schießen, zunächst ein paar Fakten: Acht Jahre hat der Brasilianer Salgado für das Projekt „Genesis“ fotografiert, mehr als 30 Reisen hat er in Gegenden dieser Welt unternommen, die noch so unberührt sind wie am Tag der Schöpfung – oder doch beinahe. Hat Gletscher, Gebirge, Vulkane, Urwälder, Wüsten und Ozeane im Bild festgehalten, große und kleine Tiere an Land, zu Wasser und in der Luft, Angehörige indigener Völker mit archaischem Körperschmuck, bei allerlei alltäglichen Verrichtungen.

Und jetzt führt wirklich kein Weg mehr am Schwärmen vorbei: Ich kenne keinen Fotografen, der das Spiel mit Licht und Schatten, mit Hell und Dunkel und allen Graustufen dazwischen so atemberaubend beherrscht wie Salgado. Da spiegeln die Augen eines Seelöwen noch die Kamera des Fotografen. Da glänzt der Arm einer Riesenechse wie eine Ritterrüstung, unter der doch gewaltige Muskeln von der Vitalität des Tiers künden. Dramatische Wolkenformationen über Canyons und Gletschern, Fischer, die auf Einbäumen über den nebligen See staken, Rinderhirten, eingehüllt vom Rauch, der vom brennenden Dung ihrer Tiere aufsteigt, die Schwanzflosse eines Wals, die so ruhig über dem Meer steht wie ein Schmetterling auf einem Waldsee… Ich bin nicht sonderlich religiös, aber diese Schöpfung zu betrachten, hat mich berührt und erfüllt. Salgados Fotos sind so viel mehr als bloß ästhetisch, sie sind voller Magie und Dramatik, vor allem aber strahlen sie Stille und Frieden aus, ja: Ewigkeit. Dabei erzählen die Bilder ja keineswegs nur vom Paradies, sondern führen zugleich vor Augen, wie viel Natur und Ursprünglichkeit wir bereits zerstört haben.

Im Natural History Museum in London ist „Genesis“ noch bis Anfang September zu sehen. Wem die Reise zu diesem und den wenigen anderen Ausstellungsorten zu aufwändig ist: Das Buch zu dem Fotoprojekt ist auch ganz wunderbar.

Geschichten zur Nacht

Ziefle_SunaPia Ziefle: Suna. Roman. Berlin 2013 (TB)

„Als ich begann, die Sprache meines Vaters zu lernen, ist sie in mich hineingerutscht, als würden Dinge und Wörter, Bilder und Töne nur zurück an ihren Platz rücken.“ An dieser Stelle ist die Geschichte, die den Leser quer durch Deutschland und halb Europa und weit ins vergangene Jahrhundert führt, beinahe schon zu Ende. Es ist die siebte Nacht, in der Luisa ihr Kind, das partout nicht schlafen will, durch das stille Haus trägt und erzählt und erzählt wie einst Sheherazade, sieht man einmal davon ab, dass es hier weniger ums Überleben als um Seelenfrieden geht. „Sie kann keine Wurzeln schlagen. Finden Sie Ihre“, hatte der alte Dorfarzt der jungen Mutter geraten.

Wurzeln. Davon hat die Protagonistin dieses wunderbaren Romans (und offenbar auch die Autorin Pia Ziefle selbst) so viele, das würde für ein kleines Wäldchen reichen. Da sind die deutschen Adoptiveltern, die serbische Mutter und der anatolische Vater, Großmütter und Großväter, Onkel und Tanten… Kriegskinder und Spätheimkehrer, die ersten Gastarbeiter in der Bundesrepublik… Jeder mit seiner ganz eigenen Sehnsucht, mit seinen eigenen Prüfungen und doch auch stellvertretend für viele. „Suna“ ist Familien- und Zeitgeschichte in einem.

Was mir an diesem Buch am besten gefällt? Einfach alles (abgesehen vielleicht vom Cover). Aber wenn ich mich entscheiden müsste: seine klare Struktur, die schnörkellos-poetische Sprache und die Vorurteilsfreiheit, mit der die Autorin jede ihrer Figuren zeichnet. Dieser Stimme würde ich gerne noch viele Nächte lauschen.

Klein und groß

Slinkachu: Kleine Leute in der großen Stadt. Hamburg 2009

P1020830Es gibt Kleine. Und Große. Und Mittlere. Kirchen und  Windräder ebenso wie Menschen. Das hängt auch davon ab, wo man selbst gerade steht. Winzig und wie verloren im Schatten riesiger Windkrafträder mutet Altenwerders St. Gertrud an, wenn man sich von der A 7 nähert. So ähnlich muss sich auch das hoffnungslos verfranste junge Paar aus Amsterdam gefühlt haben, dem ich neulich im Niemandsland am Deich begegnete. Außer der Kirche ist von dem einstigen Elbinseldorf schon lange nichts mehr übrig. Die letzten Bewohner wichen Ende der 90er Jahre der Hafenerweiterung in Hamburgs Süden. Lagerhallen und Container bestimmen seither das Bild in Altenwerder.

P1020803Kaum hat man andererseits den von hohen Bäumen gesäumten Kirchhof betreten, scheint nicht nur Ruhe einzukehren, sondern verkehren sich zugleich auch die Proportionen: Die eben noch gigantischen Windräder schrumpfen auf Westentaschenformat und überlassen St. Gertrud das Feld. Die wiederum hält sich trotz ihres plötzlichen Wachstums bescheiden im Hintergrund, während der Besucher zwischen Gräbern umherstreift und über die Relativität allen Daseins oder andere bedeutsame Dinge nachsinnen mag.

Um Relationen und Perspektivwechsel geht es auch in einem meiner Lieblingsbücher: „Kleine Leute in der großen Stadt“. Seit ein paar Jahren schon setzt der britische Straßenkünstler Slinkachu Plastikfiguren in der Großstadt aus und bewahrt die Winzlinge zugleich vor Vergänglichkeit und Übersehenwerden, indem er sie in ihrem überdimensionierten Umfeld fotografiert. Da wird eine Pfütze zum See, und eine Hummel mutiert zum slinkachu_kleineleute_grGroßwild, das es durch einen gezielten Schuss aus dem Miniatur-Gewehr zu erlegen gilt. Da dient eine achtlos fortgeworfene Zigarettenschachtel einem Paar aus Liliput als Unterschlupf, und ein Riss im Asphalt wird zum Steinbruch. Das Buch eröffnet faszinierende neue, oft witzige, gelegentlich makabre Blicke auf Altbekanntes. Und transportiert zugleich viel von der Verlorenheit, die auch Menschen in der großen Stadt gelegentlich überkommen kann, obwohl der Maßstab von Gebäuden und Straßen für sie ja eigentlich passen sollte.

Thronfolger auf Weltreise

Franz Ferdinand.PNG.880266Franz Ferdinand von Österreich-Este: „Die Eingeborenen machten keinen besonders günstigen Eindruck“. Tagebuch meiner Reise um die Erde 1892-1893. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Frank Gerbert. Wien 2013

Mit großer Entourage reiste der designierte Monarch von Österreich-Ungarn zehn Monate lang quer durch Asien, Australien und allerlei pazifische Inseln bis nach Nordamerika. 1100 Seiten umfasste sein 1895 erstmals veröffentlichtes Tagebuch, das seinen Machtanspruch und seine zukünftige Rolle in Europa unterstreichen sollte. Daraus wurde am Ende bekanntlich nichts: Erzherzog Franz Ferdinand fiel im Juni 1914 bei einem Besuch in Sarajevo einem Attentat serbischer Nationalisten zum Opfer, das im Weiteren den Ersten Weltkrieg auslöste. Ein faszinierendes Zeitzeugnis ist dieses Tagebuch einer Weltreise im ausgehenden 19. Jahrhundert aber allemal. Der Journalist Frank Gerbert hat es auf ein lesefreundliches Viertel seines ursprünglichen Umfangs gekürzt und mit einer Einleitung sowie kommentierenden Erläuterungen versehen, Text und Rechtschreibung im Übrigen aber unverändert gelassen.  Originalfotografien ergänzen die Reisenotizen.

Dass einem beim Blick in Gründe und Abgründe dieser schillernden Person der Zeitgeschichte immer wieder das Messer in der Tasche aufgehen kann, sei ausdrücklich erwähnt. Der Thronfolger schießt auch unterwegs auf alles, was ihm vor die Flinte kommt, selbst auf Koalas und fliegende Fische. Unfassbare 274.899 Stück Wild soll der fanatische Jäger im Laufe seines gerade einmal 50-jährigen Lebens erlegt haben. Er ist ebenso konservativ wie katholisch, echauffiert sich über angeblich pietätlose Bestattungsrituale in Indien, schreckt aber nicht davor zurück, in Australien eigenhändig das Grab eines Häuptlings zu schänden. Auf der anderen Seite scheint ihm durchaus bewusst zu sein, welche Gräuel den Ureinwohnern von weißen Eroberern angetan wurden. Über landschaftliche Schönheiten schreibt er mit den Augen eines Romantikers, bisweilen geradezu poetisch. Sein Blick auf fremde Völker im Allgemeinen und exotische Frauen im Besonderen ist demgegenüber zumeist eurozentristisch-abfällig bis eindeutig rassistisch, was durchaus dem Zeitgeist entsprach. Über Österreich und seine Küche geht ohnehin nichts. Aber der Habsburger ist nicht nur scharfzüngig, sondern auch ein genauer Beobachter und formuliert erstaunlich bildhaft. Einige seiner Schilderungen sind sogar komisch, allerdings wohl eher unbeabsichtigt.

„Zum Glück ist das Reisetagebuch mehr als bloß ein Dokument von Rassismus und jägerischem Größenwahn“, schreibt Herausgeber Gerbert zutreffend. „Entstanden ist eine sehr sonderbare Mixtur aus Ignoranz, Vorurteil, Ideologie, originellen An- und Einsichten, respektablen Landschaftsbeschreibungen, Plädoyers für den Naturschutz sowie einem Quäntchen Selbstironie. Dass seine Aufzeichnungen so lebendig sind, liegt vielleicht auch daran, dass der Erzherzog – wiewohl intelligent – nicht besonders gebildet war und sich vor allem als Mann der Tat begriff. Statt viel zu räsonieren, stürzt er sich ins volle Leben, verkostet die ungewöhnlichsten chinesischen Speisen, probiert Opium, lässt sich tätowieren und liefert sich ein Wettschießen mit dem besten indischen Schützen.“

„Engel, übervoll“

11185421nAlain de Botton: Kunst des Reisens. Frankfurt 2003

Paul Klee: Engel. Hamburger Kunsthalle

Über Pfingsten habe ich eine Ausstellung besucht, dreieinhalb Bücher gelesen und 701 Gedanken gesponnen, vielleicht auch mehr. So kann’s gehen, wenn es immerzu regnet. Dies soll eine Buchbesprechung werden. Aber angefangen hat es mit einer Ausstellung.

imagesMit einer Ausstellung von Paul Klees Engelbildern in der Hamburger Kunsthalle. Die meisten der spitzflügeligen Wesen hat der Künstler in seinen letzten Lebensjahren aufs Papier gebracht, viele mit kühnem Bleistiftstrich: sehr menschlich, oft unfertig oder im Übergang, zweifelnd, voller Hoffnung, teuflisch, mal anrührend („Engel, noch tastend“), mal urkomisch („Engel im Schreiten, noch unerzogen“). Beim Verlassen des Gebäudes ertappe ich mich kurz bei dem Gedanken, ob ich mir vielleicht noch eine der anderen aktuellen Ausstellungen ansehen sollte. Schließlich sind die in dem stolzen Eintrittspreis ebenso inbegriffen wie die ständige Sammlung. Ach nein! Nicht Giacomettis „Spielfelder“ über Klees Engel stülpen, auch wenn es der letzte „Spieltag“ ist. Und lieber ein andermal „Besser scheitern“.

Seit Jahren verzichte ich nun schon darauf, ein ganzes Museum auf einmal abzuarbeiten, nur weil es so billiger ist. Ich gebe zu, daran denken tue ich immer mal wieder. Und meine Liebe gehört eindeutig den kleineren Kunsträumen, die sich bei einem Besuch komplett bewältigen lassen. Bei den großen Häusern mache ich selbst einen Schnitt, beschränke mich auf eine von mehreren Ausstellungen oder einen Teil einer Ausstellung. Manchmal hätte ich es gern noch reduzierter, würde am liebsten in der Mittagspause oder am Abend mal eben vorbeischauen, einige wenige Objekte oder Bilder betrachten und wieder gehen. Diesen ganz alltäglichen Kunstgenuss habe ich vor vielen Jahren bei einem längeren Aufenthalt in Madrid (schätzen) gelernt. Wieder und wieder zog es mich damals ins Museo Nacional de Arte Reina Sofía. Mal in eine aktuelle Ausstellung, mal zu meinem jeweiligen Lieblingsbild daraus. Und immer wieder zu Picassos „Guernica“. Das hatte auch mit der Gestaltung der Eintrittspreise zu tun, keine Frage. Zu bestimmten Zeiten war der Besuch der „Reina Sofía“ sogar frei, wenn ich mich richtig erinnere, und ist es wohl heute noch. Aber geblieben ist vor allem das tiefe Erleben, dass weniger oft mehr ist und Neugier und Aufmerksamkeit gute Guides – in der Kunst ebenso wie auf Reisen.

Noch ganz beseelt vom freudigen Erinnern fiel mir Alain de Bottons „Kunst des Reisens“ in die Hände. Ich las und las. Über Erwartungen vor der Abreise, über Orte des Fortgehens und des Ankommens, über Gründe für das Reisen, darunter die individuelle Wissbegierde …, und stand plötzlich schon wieder mitten in der spanischen Hauptstadt: „Eine Gefahr beim Reisen besteht darin, dass wir Dinge zur Unzeit sehen, das heißt, bevor wir die notwendige Empfänglichkeit ausbilden konnten. … Sind wir an einen Ort gereist, den wir wahrscheinlich nie wieder besuchen werden, so fühlen wir uns verpflichtet, nacheinander Sehenswürdigkeiten zu bewundern, die nichts anderes verbindet als die räumliche Nähe. … Der Madrid-Besucher soll sich für den Palacio Real interessieren, für eine aus dem 18. Jahrhundert stammende Königsresidenz, … und – nur kurze Zeit später – für das Centro de Arte Reina Sofía, eine Kunstgalerie mit weißen Mauern, in deren Sammlung von Kunstwerken des 20. Jahrhunderts Picassos ‚Guernica‘ einen Höhepunkt darstellt. Genau die sollte jemand, der sein Wissen über die Architektur von Königsschlössern aus dem 18. Jahrhundert vertiefen möchte, aber auslassen. Natürlich verliefe eine Entwicklung, wenn derjenige sich vom Palacio Real zur Prager Burg oder zum ehemaligen Zarenpalast nach St. Petersburg aufmachte.“

Ich fürchte, eine richtige Rezension wird das hier nicht mehr. Aber ich rate zu: zu Klees Engeln, zu Madrid – und zu Alain de Bottons Essays über das Reisen. In ferne Länder ebenso wie vor der eigenen Haustür: „Bewegen wir uns mit der Einstellung von Reisenden an unserem angestammten Platz, erweist der sich womöglich als nicht weniger interessant als die Hochgebirgspässe und die von Schmetterlingen durchschwirrten Dschungel in Humboldts Südamerika. Was also kennzeichnet die Einstellung beim Reisen? Empfänglichkeit ist wohl ihr wichtigstes Merkmal. Wir nähern uns Neuem mit Demut. Wir haben keine fest gefügten Vorstellungen darüber im Gepäck, was interessant ist. Wir verunsichern Einheimische, weil wir auf Verkehrsinseln und auf schmalen Straßen stehen und bewundern, was sie für seltsame kleine Details halten. Wir laufen Gefahr, umgerannt zu werden, weil wir gefesselt sind vom Dach eines Regierungsgebäudes oder einer Mauerinschrift. Wir finden einen Supermarkt oder einen Frisiersalon ungemein faszinierend. Wir betrachten ausgiebig das Layout einer Speisekarte oder die Kleidung des Sprechers der Abendnachrichten. Wir erkennen die Spuren der Vergangenheit im Gegenwärtigen und machen Aufzeichnungen und Fotos.“

Zweierlei Reise

978-3-499-62841-2.jpg.557815Oliver Lück: Neues vom Nachbarn. 26 Länder, 26 Menschen. Hamburg 2012

Meike Winnemuth: Das große Los. Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr. München 2013

Die beiden Bücher kann man unmöglich miteinander vergleichen, aber einander gegenüberstellen, das geht. Schon weil sie sich in mancher Hinsicht so schön ergänzen.

36790661nOliver Lück reiste mit seiner Hündin Locke 20 Monate lang im Bulli durch Europa – zu Menschen und ihren Geschichten. Er traf Goldsucher und Bernsteinfischer, Meisterschaukler und einen Zwergstaat-Olympioniken, den einzigen schwarzen Flößer Deutschlands und den Fußballstar Lionel Messi. Er besuchte Menschen, die Großes vollbringen: Heißluftballons konstruieren, den Mount Everest bezwingen oder gegen die Mafia kämpfen. Und andere, die eher im Stillen wirken: Flaschenpostbriefe sammeln zum Beispiel oder die Pässe von Pilgern auf dem Jakobsweg abstempeln.

Meike Winnemuth erspielte sich eine Auszeit: zwölf Städte auf allen Kontinenten in zwölf Monaten. Mal eine Weile raus aus Deutschland, an Orten leben, die sie reizten und die sie nicht oder kaum kannte: Sydney, Buenos Aires, Mumbai, Shanghai, Honolulu, San Francisco, London, Kopenhagen, Barcelona, Tel Aviv, Addis Abeba, Havanna. Und als Zugabe Hamburg, das sich so anders anfühlte nach dem Jahr unterwegs. Eine Reise vor allem zu sich selbst.

Lück schreibt Reportage, Winnemuth Kolumne. Er nimmt sich selbst sehr zurück, manchmal fast schon zu sehr, beobachtet und beschreibt, flicht aktuellen und historischen Background in seine Erzählungen, die einem die „Nachbarn“ ordentlich nahe bringen. Sie plaudert in Briefen an Freunde, Eltern und einmal sogar das eigene jüngere Ich über Erfahrungen, Empfindungen und Eindrücke beim Reisen und Leben. Persönlich, humorvoll, klug. Manches so oder so ähnlich selbst erlebt, aber nie so prägnant formuliert. Über die Orte selbst erfährt man nicht so viel. Umso mehr dagegen, wie der Ort den Menschen bzw. der Mensch sich mit dem Ort verändert  je nachdem, welche Facetten von ihm gerade angesprochen werden. Und wie es eine Geschichte beeinflusst, wem man sie erzählt. Gelegentlich gerät die Selbstbetrachtung ein wenig lang für meinen Geschmack. Dann ist es wahrscheinlich einfach mal wieder Zeit für eine von Oliver Lücks Geschichten…

Fremde Kulturen er-fahren

Das ist durchaus wörtlich zu verstehen in der Dokukomödie „You drive me crazy“ von Andrea Thiele und Lia Jaspers, die seit heute im Kino zu sehen ist. Die Protagonisten: ein Amerikaner in Tokio, eine Deutsche in Mumbai und eine Koreanerin in München, die sich in der neuen Heimat noch einmal auf die Führerscheinprüfung vorbereiten, um ein Stück persönliche Mobilität zu erlangen – und ihre Fahrlehrer natürlich. Zwischen Fahrer- und Beifahrersitz und manchmal auch noch der Rückbank prallen Fahrstile und Kulturen aufeinander, dass es eine Pracht ist. Am Ende haben die Schüler ihre Fahrprüfung bestanden oder auch nicht. Wichtiger ist, was sie über das Land erfahren haben. Und dass sie dort angekommen sind.

Kulinarische Sehnsuchtsorte

schlaraffenlandStevan Paul: Schlaraffenland. Ein Buch über die tröstliche Wirkung von warmem Milchreis, die Kunst, ein Linsengericht zu kochen, und die Unwägbarkeiten der Liebe. Hamburg 2012

Die Geschichten von Stevan Paul kann man sich auf der Zunge zergehen lassen. Weil sie so fein beobachtet sind, so warmherzig und nachdenklich, melancholisch bisweilen, oft frech, ein wenig surreal und immer wieder einfach tröstlich. Und weil es zu jeder Geschichte das passende Rezept gibt. Denn der Autor kocht auch. Oder: Der Koch schreibt. Was für ein Glück! Herausgekommen ist ein Gedicht für Herz und Magen – und fürs Auge gleich noch dazu. Allein dieser grau schraffierte Einband, der an die dünnen Hartfaser-Frühstücksbrettchen erinnert, die es vor Jahrzehnten schon gab und jetzt wieder… wunderbar!

Dazu passen die Geschichten von Orten und Menschen, die ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Wie der Oberkellner Adam, der seinen Beruf liebt. Wenn nur die Gäste nicht wären… Oder der alte Reto Gamper, der erst „Dienstschluss“ hat, als die Abrissbirne des Baggers gegen die Mauer des längst geschlossenen Berghotels kracht. Wie Herta Klöpke, die noch ein letztes Mal groß aufkocht, bevor die Kantine des Ost-Kaufhauses einem Schlemmerparadies mit Hummer-Stand und Champagner-Bar weichen muss. Wie der magenkranke Restaurantkritiker, der auf der Liste der Tierschützer spontan für ein weltweites Verbot von Gänsestopfleber unterschreibt, „denn er erfuhr ja allabendlich die Qualen der Gänsestopfleber-Zwangsverfütterung am eigenen Leib“. Oder der Foodblogger, der beinahe mal gewöhnliches Hackfleisch im Supermarkt eingekauft hätte, weil seine Frau außerhalb der Öffnungszeiten des Bio-Schlachters Lust auf Spaghetti Bolognese hatte. „Das ist ja ekelhaft“, findet sein allzeit ökologisch korrekter Nachbar. „Nein, Liebe. Es war Liebe, Robert.“

Ein ganz eigener Humor zieht sich durch die Erzählungen, die immer wieder überraschende Wendungen nehmen. Vieles ist nicht, was es zu sein scheint. Erinnerungen überlappen die Gegenwart und Gedanken die Taten, bis man nicht mehr sicher sagen kann, wo das eine beginnt und das andere aufhört. Die 15 Schlaraffenländer, in die die Reise führt, sind weiß Gott nicht alle märchenhaft. Und mancher kulinarische Sehnsuchtsort so unerreichbar wie das Ursprünglich-Einfache und zugleich Einzigartig-Besondere, dem die beiden Freunde auf ihrer letzten Tour im alten VW-Bus durch Italien hinterherjagen wie der Teufel der armen Seele, bevor unwiderruflich der Ernst des Lebens beginnen soll. „Unglaublich oder, zwölf ganze Trüffel. Für 100 Euro?“ – „Tri Tra Truffola“: Den Trüffelhändler und die Alten auf der Bank vor der Dorfkirche darf man sich wahrscheinlich wie das mediterrane Gegenstück zu den tiefenentspannten Nordlichtern in der Flens-Werbung vorstellen. Nein, es ist nicht alles Schlaraffenland, aber die tröstliche Wirkung von warmem Milchreis, die entfaltet sich am Ende doch.