Tell me a story

Zwei Stunden Zeit. Für eine Begegnung mit einem mir bisher unbekannten Hamburger. Ein Erzählspiel, um miteinander ins Gespräch zu kommen. An einem historischen Ort, der gerade mit neuem Leben erfüllt wird. – Das sind Rahmenbedingungen so recht nach meinem Geschmack. Aber der Reihe nach:

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Zuerst der Ort. Ein Häuschen, nur wenige Schritte von der U-Bahnstation St. Pauli entfernt. Mit seinen Säulen erinnert es an einen kleinen Tempel. Die 1820 im klassizistischen Stil umgebaute ehemalige Wache am Millerntor ist der einzige Überrest einer mächtigen Wallanlage aus dem 17. Jahrhundert, die Hamburg im Dreißigjährigen Krieg vor der Eroberung schützte. St. Pauli war damals noch eine Siedlung außerhalb der Stadt, und das dahinter liegende Altona gehörte zu Dänemark. Wer aus Richtung Westen in die Stadt wollte, musste durchs Millerntor und an der dortigen Wache sein Torgeld entrichten und seine Waren verzollen. Heute braust mehrspurig und praktisch pausenlos der Straßenverkehr vorbei.

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Es gibt heimeligere Ecken in Hamburg, gewiss. Aber wenn man erst einmal die Säulen passiert und die Tür hinter sich geschlossen hat, ist von dem Lärm draußen kaum noch etwas zu hören. Dafür hoffentlich bald viele spannende Hamburger Geschichten. Denn das soll die alte Wache werden: ein Ort für erzählte Geschichte, ein Erzählmuseum. Initiator und Finanzier des Projekts ist die Alfred Toepfer Stiftung, Kooperationspartner das nahe gelegene Museum für Hamburgische Geschichte (Hamburg Museum). In gemütlicher Wohnzimmer-Atmosphäre – die Wache ist mit ihren 24 Quadratmetern nicht nur so klein wie eine gute Stube, sondern mit Sofa und Sesseln auch so eingerichtet – sollen ein- bis zweimal die Woche Hamburger Bürger befragt und gefilmt werden.

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Wer möchte, kann das Erzählte anschließend auf DVD gebrannt mit nach Hause nehmen. Vor allem aber sollen möglichst viele der Geschichten im Hamburg Museum archiviert und auf der Website des Museums für Hamburgische Geschichtchen veröffentlicht werden, wie der jüngste Zuwachs in der städtischen Museumslandschaft getauft wurde. Denn die Initiatoren wissen: „Stadtgeschichte wird nicht nur durch Exponate im Museum oder wissenschaftliche Aufsätze von Historikern erfahrbar, sondern auch durch die mündliche Überlieferung von Geschichten und Geschichtchen.“ Unterstützt und begleitet wird das Projekt vom Oral-History-Archiv „Werkstatt der Erinnerung“ der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte.

In der alten Wache soll aber nicht nur Stadtgeschichte festgehalten, sie soll selbst ein Ort der Begegnung und des Gesprächs werden und steht zu diesem Zweck auch externen Veranstaltern offen. Ich bin vor ein paar Tagen der Einladung eines solchen „Untermieters auf Zeit“ gefolgt – den Autoren des Projekts Storybox. Der Organisationsberater und Regionalmanager Georg Pohl (ein Hamburg-verliebter „Zugereister“ aus Leipzig) und die Märchen- und Geschichtenerzählerin Micaela Sauber (eine Ur-Hamburgerin) haben gemeinsam ein Erzählspiel entwickelt, mit dem sie Menschen in unterschiedlichen Kontexten miteinander ins Gespräch bringen wollen: im Rahmen der Quartiers- und Projektentwicklung ebenso wie in der unternehmensinternen Kommunikation, auf Tagungen und Seminaren oder im persönlichen Umfeld. In der Millerntorwache bieten die beiden noch bis zum Frühjahr jeweils zwei HamburgerInnen Gelegenheit zum spielerischen Erzählen und gegenseitigen Kennenlernen. Alles, was es dafür braucht, sind zwei Stunden Zeit – und eine Portion Neugier natürlich.

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Ich sollte eigentlich einen Architekten kennenlernen. Aber weil der sich die falsche Uhrzeit notiert hatte, haben stattdessen Georg Pohl, Micaela Sauber und ich zusammen mit der Storybox gespielt und uns gegenseitig ein paar unserer ganz persönlichen Hamburg-Geschichten mit auf den Weg (und in das Schatzkästchen) gegeben. Das hat so viel Spaß gemacht, dass ich sofort zugestimmt habe, im Januar wiederzukommen – dieses Mal, um den säumigen Architekten zu treffen. – Wer selbst bei dem einen oder anderen Erzählprojekt mitmachen möchte, findet Telefonnummern und Kontaktadressen unter den Links im Text.

Ambrosisch

meistens_alles_sehr_schnell-9783423249010Christopher Kloeble: Meistens alles sehr schnell. Roman. München 2012

Viel Zeit bleibt Albert nicht um herauszufinden, wer seine Mutter ist. Der 19-Jährige ist im Heim aufgewachsen. Fred, zu dem er noch nie Vater gesagt hat, weil Albert sich selbst immer eher wie Freds Vater fühlte, ist todkrank. Fred ist inzwischen über Sechzig, riesengroß und geistig ein Kind. Seine Lieblingslektüre sind Lexika, er zählt mit Begeisterung grüne Autos, und wen oder was er so richtig gern mag, nennt er „ambrosisch“. Albert zieht zu Fred, um dessen letzte Monate gemeinsam zu verbringen und um endlich der eigenen Herkunft auf die Spur zu kommen.

Ohne Einzelheiten zu verraten: Die Geschichte hat es in sich. Sie beginnt in einer Hochsommernacht des Jahres 1912 in der oberbayrischen Provinz und umspannt mit allerlei Vor- und Rückblenden und rasanten Perspektivwechseln fast ein ganzes Jahrhundert. Düstere Geheimnisse, Tabubrüche und Schuld inklusive. Das Buch ist vieles in einem: Familiengeschichte, Dorfchronik und Heimatroman, Krimi und Lovestory. Toll geschrieben, extrem spannend, witzig, traurig, warmherzig. Sehr zu empfehlen!

Geschichten zur Nacht

Ziefle_SunaPia Ziefle: Suna. Roman. Berlin 2013 (TB)

„Als ich begann, die Sprache meines Vaters zu lernen, ist sie in mich hineingerutscht, als würden Dinge und Wörter, Bilder und Töne nur zurück an ihren Platz rücken.“ An dieser Stelle ist die Geschichte, die den Leser quer durch Deutschland und halb Europa und weit ins vergangene Jahrhundert führt, beinahe schon zu Ende. Es ist die siebte Nacht, in der Luisa ihr Kind, das partout nicht schlafen will, durch das stille Haus trägt und erzählt und erzählt wie einst Sheherazade, sieht man einmal davon ab, dass es hier weniger ums Überleben als um Seelenfrieden geht. „Sie kann keine Wurzeln schlagen. Finden Sie Ihre“, hatte der alte Dorfarzt der jungen Mutter geraten.

Wurzeln. Davon hat die Protagonistin dieses wunderbaren Romans (und offenbar auch die Autorin Pia Ziefle selbst) so viele, das würde für ein kleines Wäldchen reichen. Da sind die deutschen Adoptiveltern, die serbische Mutter und der anatolische Vater, Großmütter und Großväter, Onkel und Tanten… Kriegskinder und Spätheimkehrer, die ersten Gastarbeiter in der Bundesrepublik… Jeder mit seiner ganz eigenen Sehnsucht, mit seinen eigenen Prüfungen und doch auch stellvertretend für viele. „Suna“ ist Familien- und Zeitgeschichte in einem.

Was mir an diesem Buch am besten gefällt? Einfach alles (abgesehen vielleicht vom Cover). Aber wenn ich mich entscheiden müsste: seine klare Struktur, die schnörkellos-poetische Sprache und die Vorurteilsfreiheit, mit der die Autorin jede ihrer Figuren zeichnet. Dieser Stimme würde ich gerne noch viele Nächte lauschen.

Thronfolger auf Weltreise

Franz Ferdinand.PNG.880266Franz Ferdinand von Österreich-Este: „Die Eingeborenen machten keinen besonders günstigen Eindruck“. Tagebuch meiner Reise um die Erde 1892-1893. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Frank Gerbert. Wien 2013

Mit großer Entourage reiste der designierte Monarch von Österreich-Ungarn zehn Monate lang quer durch Asien, Australien und allerlei pazifische Inseln bis nach Nordamerika. 1100 Seiten umfasste sein 1895 erstmals veröffentlichtes Tagebuch, das seinen Machtanspruch und seine zukünftige Rolle in Europa unterstreichen sollte. Daraus wurde am Ende bekanntlich nichts: Erzherzog Franz Ferdinand fiel im Juni 1914 bei einem Besuch in Sarajevo einem Attentat serbischer Nationalisten zum Opfer, das im Weiteren den Ersten Weltkrieg auslöste. Ein faszinierendes Zeitzeugnis ist dieses Tagebuch einer Weltreise im ausgehenden 19. Jahrhundert aber allemal. Der Journalist Frank Gerbert hat es auf ein lesefreundliches Viertel seines ursprünglichen Umfangs gekürzt und mit einer Einleitung sowie kommentierenden Erläuterungen versehen, Text und Rechtschreibung im Übrigen aber unverändert gelassen.  Originalfotografien ergänzen die Reisenotizen.

Dass einem beim Blick in Gründe und Abgründe dieser schillernden Person der Zeitgeschichte immer wieder das Messer in der Tasche aufgehen kann, sei ausdrücklich erwähnt. Der Thronfolger schießt auch unterwegs auf alles, was ihm vor die Flinte kommt, selbst auf Koalas und fliegende Fische. Unfassbare 274.899 Stück Wild soll der fanatische Jäger im Laufe seines gerade einmal 50-jährigen Lebens erlegt haben. Er ist ebenso konservativ wie katholisch, echauffiert sich über angeblich pietätlose Bestattungsrituale in Indien, schreckt aber nicht davor zurück, in Australien eigenhändig das Grab eines Häuptlings zu schänden. Auf der anderen Seite scheint ihm durchaus bewusst zu sein, welche Gräuel den Ureinwohnern von weißen Eroberern angetan wurden. Über landschaftliche Schönheiten schreibt er mit den Augen eines Romantikers, bisweilen geradezu poetisch. Sein Blick auf fremde Völker im Allgemeinen und exotische Frauen im Besonderen ist demgegenüber zumeist eurozentristisch-abfällig bis eindeutig rassistisch, was durchaus dem Zeitgeist entsprach. Über Österreich und seine Küche geht ohnehin nichts. Aber der Habsburger ist nicht nur scharfzüngig, sondern auch ein genauer Beobachter und formuliert erstaunlich bildhaft. Einige seiner Schilderungen sind sogar komisch, allerdings wohl eher unbeabsichtigt.

„Zum Glück ist das Reisetagebuch mehr als bloß ein Dokument von Rassismus und jägerischem Größenwahn“, schreibt Herausgeber Gerbert zutreffend. „Entstanden ist eine sehr sonderbare Mixtur aus Ignoranz, Vorurteil, Ideologie, originellen An- und Einsichten, respektablen Landschaftsbeschreibungen, Plädoyers für den Naturschutz sowie einem Quäntchen Selbstironie. Dass seine Aufzeichnungen so lebendig sind, liegt vielleicht auch daran, dass der Erzherzog – wiewohl intelligent – nicht besonders gebildet war und sich vor allem als Mann der Tat begriff. Statt viel zu räsonieren, stürzt er sich ins volle Leben, verkostet die ungewöhnlichsten chinesischen Speisen, probiert Opium, lässt sich tätowieren und liefert sich ein Wettschießen mit dem besten indischen Schützen.“