Time Out Country Walks near London, Volume 1. London 2011
… übers Land: über sanfte Hügel, durch schattige Wälder und sonnensatte Felder der Grafschaft Buckinghamshire. Ausgangs- und Endpunkt meiner Wanderung ist Beaconsfield etwa eine Bahnstunde westlich der Londoner City. Das Städtchen ist stolz auf den ältesten Miniaturpark der Welt und auf die Jugendbuchautorin Enid Blyton, die die letzten 30 Jahre ihres Lebens in Beaconsfield verbracht hat. Ich lasse das Modelldorf links liegen – an die Schriftstellerin erinnert ohnehin nur noch ein Straßenschild –, schließlich habe ich eine ordentliche Strecke Wegs vor mir, das Buch immer in der Hand.
Der knapp 20 Kilometer lange Beaconsfield Circular ist einer von 52 Country Walks near London, dem ersten der wunderbaren Time Out-Wanderführer durch Südostengland. Das Buch enthält eine Wanderung für jedes Wochenende des Jahrs und eine 53. extra, quasi als eiserne Reserve. So war das Ganze auch mal entstanden: Eine Gruppe von Freunden traf sich jeden Sonnabend zum gemeinsamen Wandern irgendwo zwischen Kent und den Chiltern Hills, zwischen Hampshire und Essex. Landschaftlich reizvoll sollte die Strecke sein, zwischen sieben und 14 Meilen lang, Start und Ziel mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. In irgendeinem netten Pub wollte man zum Lunch einkehren, später nach Möglichkeit noch mal woanders zum Tee. Bald kamen Freunde der Freunde dazu. Das Buch wurde geschrieben… Den Saturday Walkers’ Club gibt es heute noch.
Mit der ersten Auflage des Wanderführers war ich schon in den 1990er Jahren durch die englische Countryside gestreift. Jetzt hatte ich mir eine aktualisierte Fassung besorgt. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mit einem Fahrradtouren-Buch in Norddeutschland unterwegs war. „Und hinter dem Umspannwerk biegen Sie rechts ab…“, hieß es in der Wegbeschreibung. Dass sie veraltet war, merkte ich, als mich ein Einheimischer darüber aufklärte, dass es das Umspannwerk schon ein paar Jahre nicht mehr gab. Immerhin konnte er mir sagen, wo es sich früher befunden hatte, so dass ich meinen Weg unbeschadet fortsetzen konnte.
Aber zurück zum Beaconsfield Circular, der auch eine sehr schöne Passage zum Thema enthält. Nach einem Ausrufezeichen in Fettdruck wird der Wanderer ermahnt: „It is easy to get lost during the next 500 metres or so, so please follow these directions carefully. Take the first path sharply to the right, signed by a no-horses symbol on a white-topped post, up into the trees, your direction 140 degrees initially…” Dann über eine „Kreuzung“ – das Ganze spielt in den an diesem Tag lichtdurchfluteten Hodgemoor Woods –, bei nächster Gelegenheit rechts ab durch ein möglicherweise matschiges Wegstück (stimmt), nach 75 Metern links in einen Pfad mit deutlich mehr Grasbewuchs (stimmt auch). Und so weiter. Weitere vier Ausrufezeichen in Fettdruck und doppelt so viele Abzweigungen später habe ich die unmittelbare Gefahrenzone des Verlorengehens erfolgreich hinter mich gebracht. Was für ein Spaß! Und vor Ort auch deutlich weniger verwirrend, als nach der Lektüre zu vermuten war.
Lunchtime Stop in Merlins Cave in Chalfont St. Giles. Ein kleines Schwätzchen am Tresen, dann arbeite ich mich durch den Dunst des sommersonntäglichen Barbecue in den lauschigen Garten des Lokals vor und entspanne im Schatten hoher Laubbäume, während vom Nachbargrundstück sanfte Jazz-Klänge herüberwehen. Bis ich die vom Time Out-Führer empfohlene Mittagsraststätte erreichte, war ich bereits an vier anderen Pubs und einem indischen Restaurant vorbeigekommen und ordentlich beeindruckt von Anzahl und Auswahl an Einkehrmöglichkeiten. Später beim Klönschnack mit der Nachmittagsaufsicht in der Kirche gleich nebenan erfahre ich, dass die Versorgungslage bis in die jüngere Vergangenheit offenbar noch deutlich besser war. Gerade hätten ein paar Pubs geschlossen. Vielleicht, weil in letzter Zeit zu wenige Amerikaner in Chalfont St. Giles Station gemacht haben. Die sind, wie man mir sagte, nämlich besonders begeistert von dem Dichter und politischen Denker John Milton, zu dessen 400. Geburtstag vor ein paar Jahren das Städtchen ein weithin beachtetes Literaturfestival veranstaltet hat. Milton war 1665 von London nach Chalfont St. Giles gekommen: auf der Flucht vor der Pest, aber auch, weil die Provinz nach Wiedereinführung der Monarchie in England ein sichererer Ort für den überzeugten Republikaner zu sein schien. Dort vollendete Milton auch sein berühmtes episches Gedicht Paradise Lost. („The mind is its own place, and in itself / Can make a heaven of hell, a hell of heaven.” – Book 1)
Miltons Cottage an der Hauptstraße, das heute ein Museum beherbergt, unter anderem mit der Erstausgabe von Paradise Lost, hatte der Quäker Thomas Ellwood für den Dichterfreund aufgetan. Kein Zufall: Nur wenige Kilometer später führt mich mein Weg am Friends Meeting House auf dem Grund der Old Jordans Farm vorbei, die ab dem 17. Jahrhundert von Quäkern bewirtschaftet wurde. Auf dem Friedhof neben dem Gemeindehaus sind Hunderte Angehöriger dieser Glaubensgemeinschaft begraben, darunter auch William Penn, Gründer von Pennsylvania, dem einzigen Quäker-Staat, der jemals existiert hat. Seit dem frühen 20. Jahrhundert finden wieder regelmäßig Versammlungen in dem Meeting House statt, das Dorf Jordans entstand…
Was für eine geschichtsträchtige Wanderung! Und dazwischen schönstes Buckinghamshire.