Eingewandert

Eine richtig lange hanseatische Familientradition könne er nicht vorweisen, sagte Herr M. bei unserem ersten biografischen Gespräch. Die Mutter des Kaufmanns stammt aus Lettland, ihre Vorfahren sind Letten und Litauer. Die Familie des Vaters kommt ursprünglich aus dem Mecklenburgischen.

1862 legte der damals 28-jährige Urgroßvater in Hamburg den Bürgereid ab:

„Ich gelobe und schwöre zu Gott, dem Allmächtigen, daß ich der Freien und Hansestadt Hamburg und dem Senat treu und hold seyn, das Beste der Stadt suchen und Schaden von ihr abwenden will, soviel ich vermag; daß ich die Verfassung und die Gesetze gewissenhaft beobachten, alle Steuern und Abgaben, wie sie jetzt bestehen und künftig zwischen dem Senat und der Bürgerschaft vereinbart werden, redlich und unweigerlich entrichten, und dabei, als ein rechtschaffener Mann, niemals meinen Vortheil zum Schaden der Stadt suchen will. So wahr mir Gott helfe!“

In der „Vorschrift für diejenigen die das Bürgerrecht nachsuchen“, einem drei Seiten langen Formular, wurde er unter anderem gefragt, „warum er seinen Geburtsort verlassen“. Handschriftlich trug der Urgroßvater ein: „Weil ich dachte mein Glück hier zu machen.“

25 Kommentare zu “Eingewandert

    • Ich fand die Formulierung auch ganz wunderbar. Allerdings ging es – damals wie heute – natürlich in erster Linie darum, sich eine neue (oder auch überhaupt eine) Existenz aufzubauen.

    • Herzlichen Dank für die hochinteressante Ergänzung! Mit den in der älteren plattdeutschen Fassung erwähnten Abgaben („Türkensteuer“) werde ich mich in Ruhe beschäftigen.

  1. Ich glaube, das war schon immer ein guter Grund, wegzugehen: „Weil ich dachte mein Glück hier zu machen.“ Ich denke an die, die hier ankommen, auf der Suche nach ihrem Glück, und glaube mich im Gegenzug an Berichte zu erinnern, dass Auswanderer ziemlich oft in den Ländern, in die sie aufbrachen, nicht so furchtbar willkommen waren. Es wiederholt sich alles …

    • In einem Buch über die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“ in Deutschland („gekommen und geblieben“ von Michael Richter) las ich die folgende, wie ich finde sehr zutreffende Analyse: „Die allermeisten Menschen in unserer Welt führen das Leben, das sich ihnen bietet. Sie bleiben dort, wo sie geboren und aufgewachsen sind. … Es gibt keine Kultur, die den Menschen empfiehlt fortzugehen, weit weg in völlig unbekannte Länder, um sich dort von null eine neue Existenz aufzubauen. Wer es wagt, geht hinaus in die Kälte. Die Daheimgebliebenen werden ihn dafür bewundern, aber auch bestrafen, denn mit seinem Mut und seiner Energie führt er ihnen ihre Ängste und Grenzen vor. … Der Migrant wird aber auch an seinem Ankunftsort nicht geliebt: Hier hat er es mit anderen Daheimgebliebenen zu tun, in deren Mitte er plötzlich einbricht und die er mit der Relativität ihrer Welt konfrontiert.“

  2. In gewisser Weise geht es doch immer um das Glück. Nur was das Glück genau ist, ist eben von Mensch zu Mensch verschieden und steht natürlich in engem Zusammenhang damit, wo der Auswanderer herkommt. Für die einen ist es Glück, dem Krieg zu entfliehen, für die anderen mehr Geld zu verdienen. Und für mich selbst kann ich sagen, dass ich bereits in der glücklichen Situation gelebt habe, einfach aus Neugier und Lust auf Veränderung eine solche Entscheidung zu treffen. Liebe Grüße, Peggy

    • Deine Gedanken zu den Migrationsmotiven lesen sich wie eine Maslowsche Bedürfnispyramide, liebe Peggy. Ach, wäre das eine schöne Welt, in der jede(r) frei wählen könnte, ob er oder sie bleiben oder gehen möchte!

      • Jetzt, wo Du es sagst, liebe Maren, in gewisser Weise schon. Wobei ich eigentlich nur meinte, dass Glück etwas sehr individuelles ist und vor allem von den Umständen bestimmt wird, in denen sich jemand befindet. Ich finde übrigens den Ausdruck „sein Glück machen zu wollen“ sehr schön. Es kann eben alles bedeuten und es schwingt eine Prise Abenteuer mit. Ganz liebe Grüße, Peggy

      • Eine Prise Abenteuerlust, die Bereitschaft, die Ärmel aufzukrempeln, vielleicht sogar die Gewissheit es zu packen – ja, mir gefällt der Ausdruck auch sehr. 🙂
        Dir und deinen Lieben, ganz besonders natürlich dem Kleinen Entdecker, schöne sonnige Ostertage!

  3. Ah, du schreibst wieder an einer Biografie, diese sehr spannende Arbeit.
    Die Worte, die er spricht, tragen vielleicht auch heute viele Menschen in sich, die ihr Land verlassen. Viel Gefühl und Sehnsucht liegt in diesen Silben.

    • Ja, eine spannende Arbeit ist das, immer wieder. 🙂
      Mir kam der Urgroßvater in diesen wenigen Worten auch sehr stark entgegen – mit Sehnsucht, aber auch mit Zuversicht. Gute Baumeister alle beide.

      • Da sprichst du Gutes, „Sehnsucht & Zuversicht“, beides wichtige Baumeister. Ich denke, die braucht es im Gepäck und die wünsche ich allen Baumeistern.

  4. Interessant! „Sein Glück woanders suchen“ heißt auf englisch wunderbarer Weise: to seek greener pastures (grünere Weiden suchen). Ich sehe den Hirten mit seinen Tieren über die Weiten der Berge ziehen, oder die Nomaden mit den Kamelen durch die Wüsten der Welt.
    Ich habe auch bei „Türkensteuer“ nachgelesen. Man erfährt, dass der Kaiser des Römischen Reiches deutscher Nation zur Abwehr der Heere der „Ungläubigen“ Geldmittel brauchte, die von den Ständen (Bürger, Bauern) und nicht mehr von den Landesherren erbracht werden mussten. Faktisch war es die erste reichsweite Kopfsteuer. – Und natürlich wird man dabei erinnert an die Zeit, als die „Türken vor Wien“ standen und nur durch ein Wunder zurückgeworfen wurden. Und drittens, dass das „Türkenreich“ in den folgenden 2 Jahrhunderten nur langsam zurückgedrängt wurde, vor allem durch die Südexpansion der Russen. Im ehemaligen Byzanz blieben die Türken die Herren, bis zu den Befreiungskriegen des 19. Jahrhunderts.
    Aktuelle Bezüge? Die Ungarn waren damals „Pufferstaat“. Ich nehme an, das sitzt ihnen noch im ethnischen Gedächtnis.

    • Feine Bilder von Bergen, Wüsten und grünen Weiden zeichnest du, Gerda. Und während ich die Menschen ziehen sehe, erklingt in meinem Kopf das seit vielen Jahren nicht mehr gehörte „green green grass of home“ des unvergesslichen Elvis. Am Ende sehnen wir uns wohl alle nach grünen Weiden, das haben die Engländer gut erkannt. Und über das ethnische Gedächtnis der Ungarn denke ich jetzt noch ein bisschen nach. 😉

  5. Das finde ich immer so irre, Maren, das einer 1826 genau aus dem gleichen Grund nach Hamburg kam, wie ich (und fast alle anderen auch).

    • Ja, am Ende sind wir Menschen uns in unseren Bedürfnissen und Gefühlen über die Jahre und Kontinente wohl ähnlicher, als wir manchmal denken. Herzliche Ostergrüße!

  6. Sehr viele Menschen sind irgendwann von irgndwoher, irgendwohin unterwegs gewesen. Fast alle waren ein- oder mehrmals, freiwillig oder notgedrungen, unterwegs zu einem neuen Glück. Das lehrt uns die Geschichte für die Vergangenheit und die Aktualität für die Gegenwart. Oft wird das in der eigenen Familie erst durch eine Genealogie aufgedeckt! Und es scheint gewaltig den Anschein zu machen, dass es in der Zukunft nicht anders sein wird.

    https://ahnennamenwappenundmehr.wordpress.com/2016/06/16/alle-schwyzer-sind-frueher-oder-spaeter-einmal-in-unser-land-eingewandert-all-people-in-schwyz-are-sooner-or-later-emigrated-again-in-our-country/

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