Und immer die Wüste

Die ewige Liebe segne dich.
Sie erfülle deine Füße mit Tanz
und deine Arme mit Kraft.
Sie erfülle dein Herz mit Zärtlichkeit
und deine Augen mit Lachen.
Sie erfülle deine Ohren mit Musik
und deine Nase mit Wohlgerüchen.
Sie erfülle deinen Mund mit Jubel
und dein Herz mit Freude.
Sie schenke dir immer neu die Gnade der Wüste.
Stille, frisches Wasser und neue Hoffnung.
Sie gebe uns allen neu die Kraft,
der Hoffnung ein Gesicht zu geben.
Es segne dich die ewige Liebe.

Irischer Segensspruch

„Die Gnade der Wüste“: Wenn du schon einmal dort warst, wirst du das Bild verstehen. Nach Schreiben ist mir in diesen Tagen nicht so sehr, aber ein paar Bilder gebe ich dir gern mit auf den Weg in das noch junge Jahr. Ich habe sie im November in Marokko, unweit der algerischen Grenze, aufgenommen. Vor einem Jahr war ich in der Gegend schon einmal Teil einer Karawane gewesen, hatte mich in die wunderbaren Dromedare verliebt, die uns tagelang geduldig durch Geröll und Sandmeere begleiteten, und die Weite und Stille genossen, die uns umgab. In den alten Beiträgen findest du die passenden Worte auch zu den neuen Bildern.

Die Karawane zieht weiter

p1170552… und immer weiter. Über sandige Flächen und Geröll. Durch ein Trockental. Steinige Plateaus und kleinere Dünenzonen wechseln sich ab. Geschickt leiten uns die Kamelführer durch das Niemandsland. Den ganzen Tag durch tiefen Sand zu laufen wäre viel zu anstrengend für Mensch und Tier.

… und immer weiter. Mittags rasten wir irgendwo im Schatten einer Tamariske. Am späten Nachmittag schlagen wir unsere Zelte auf. Vor uns ein Meer aus Sand, dessen Kämme im weicher werdenden Licht des verlöschenden Tages zuerst in warmen Gold- und Orangetönen, später in zartem Rosa leuchten. Hinter der massiven Bergkette im Hintergrund liegt bereits die algerische Sahara. Allmählich beginnen wir zu ahnen, wie unermesslich groß diese Wüste ist.

… und immer weiter. Durch eine Pfannkuchen-flache lehmige Ebene zum ausgetrockneten Flusstal des Draa. Der Draa ist mit 1.100 Kilometern der längste Fluss Marokkos, führt aber in normalen Jahren schon ab Zagora kein Wasser mehr. An einer verlassenen Oase erkennen wir, dass die Gegend früher einmal fruchtbarer gewesen sein muss. Sieht man von ein paar Tropfen vor wenigen Wochen ab, die feine Muster in dem brüchigen Untergrund hinterlassen haben, hat es hier zuletzt vor zwei Jahren geregnet.

… und immer weiter. Durch weite Ebenen, hinter denen sich die bis zu hundert Meter hohen Dünenmassive des Erg Chegaga erheben. An ihrem Fuß werden wir unsere letzte Nacht in der Wüste verbringen.

Die Karawane zieht weiter. Und immer weiter. Aber schau selbst.

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Süchtig nach Wüste

p1170709Ich kann mich noch gut an meine erste Begegnung mit der Wüste erinnern. Von Santiago de Chile aus waren wir mit einer kleinen Maschine in den Norden des Landes geflogen. Die Landung war derart turbulent, dass ich nur noch heulte und am liebsten sofort wieder weg wollte. Ein paar Tage später heulte ich immer noch, oder besser: schon wieder, aber weg wollte ich nicht mehr. So atemberaubend waren das Tal des Todes und das Tal des Mondes, der Salzsee und die Geysire, so überirdisch schön all die Sonnenauf- und -untergänge, die die Salzkordillere der Atacama und den alles überragenden Licancabur in ein Meer von Gelb bis Violett tauchten, dass ich am liebsten für immer geblieben wäre.

p1170544Das ist nun beinahe zehn Jahre her, und mit jedem Aufenthalt in der Wüste scheint meine Sehnsucht größer zu werden. Die Sehnsucht, in diese Seelenlandschaften einzutauchen, allein auf einer Ebene zu stehen, die ringsum den Horizont berührt, vollkommene Stille zu atmen, mich angenehm unbedeutend und zugleich mit allem verbunden zu fühlen. Für ein paar Tage nur, die Wüste ist ja kein Ort, an dem man sich einrichtet. „Heimat der Seele und dem Körper Exil“, wie der libysche Autor Ibrahim al-Koni so unnachahmlich punktgenau formuliert.

p1170409In diesen Tagen war ich zum ersten Mal in al-Konis Wüste, der Sahara, der mit Abstand größten von allen. Sagenhafte neun Millionen Quadratkilometer Stein, Fels, Kies, Geröll und Sand zwischen dem Atlantik und dem Roten Meer: Allein die Vorstellung kann einen Demut lehren. Wir legten in viereinhalb Tagen siebzig, vielleicht auch achtzig Kilometer zurück – zu Fuß und auf dem Rücken von Dromedaren. Schon lange hatte ich von einer Karawane geträumt, endlich war es so weit.

p1170300In der Nähe von Mhamid, der südlichsten Oase des Draa-Tals im Süden Marokkos, trafen wir die Beduinen, die uns auf unserer Wanderung durch die Wüste begleiten sollten. Wir waren spät dran. Als die Tiere gesattelt und mit Ausrüstung und Proviant für die nächsten Tage beladen waren, war die Sonne hinter dem Horizont verschwunden. Von einer Minute auf die andere wurde es klirrend kalt. Im Schein unserer Stirnlampen tappten wir durch den Sand, auf den Sichelmond zu, der wie eine Barke im Sternenmeer dümpelte. Als wir schließlich zwischen flachen Dünen unser erstes Lager errichteten, fühlte es sich beinahe an wie nach Hause zu kommen.

p1170716Alle Fotos in diesem Beitrag stammen aus der Sahara.

Am Rande der Unendlichkeit

p1170405Die Welt tötet uns durch Betriebsamkeit, die Wüste belebt uns durch Stille.

Ibrahim al-Koni: Meine Wüste

p1170509Unser Blick beruhigt sich an den einfachen Formen von Sand, Felsen und Himmel. Wir durchwandern einen Raum, dessen karge Einfachheit mit keinem der uns vertrauten Lebensräume vergleichbar ist. Nichts, was den Blick ablenkt, keine flackernden Bilder, keine hektisch wechselnden Szenarien, niemand, der etwas von uns fordert, außer wir von uns selbst. Nur das grell strahlende Blau des Himmels über uns, nur Sand oder Stein unter unseren Füßen. Nur die gleichförmige Weite, deren überwältigende Schönheit in ihrer Einfachheit begründet ist. Eine Einfachheit, deren Erhabenheit uns in staunendes Schweigen versetzt. Und unser Schweigen entspricht dem Atem der Wüste. Die Stille umfängt uns – anfangs vielleicht bedrohlich, dann aber sickert sie ein in unsere Seele und lässt sie schließlich im Gleichklang schwingen mit der Weite und Ruhe der Landschaft.

Jürgen Werner: Wüstenwandern

p1170512Vollkommenheit entsteht so offensichtlich nicht dann, wenn man nichts mehr hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.

Antoine de Saint-Exupéry: Wind, Sand und Sterne

p1170573Kein Mensch kann in der Wüste leben und davon unberührt bleiben. Er wird fortan, wenn vielleicht auch kaum merklich, das Zeichen der Wüste, das Zeichen des Nomaden tragen; und er wird immer, je nach Veranlagung, leises oder brennendes Heimweh nach jenem Leben verspüren. Denn dieses unerbittliche Land übt einen Zauber aus, dem ein gemäßigtes Klima nichts entgegenzusetzen hat.

Wilfred Thesinger: Die Brunnen der Wüste

p1170570Für die Grübler in den Städten ist der Drang in die Öde stets unwiderstehlich gewesen, wohl nicht, weil sie dort Gott fanden, sondern weil sie in der Einsamkeit mit größerer Klarheit die lebendige Stimme hörten, die sie in sich trugen.

T.E. Lawrence: Die sieben Säulen der Weisheit

p1170547Von Zeit zu Zeit braucht jeder Mensch ein Stück Wüste.

Sven Hedin: Durch Asiens Wüsten

p1170621und weil einem in der wüste nichts gehört, gehört einem alles.

otl aicher: gehen in der wüste

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Wüsten(ver)führer

Otl Aicher: Gehen in der Wüste. Frankfurt 2005 (TB)

Jürgen Werner: Wüstenwandern. Unterwegs am Rande der Unendlichkeit. Stuttgart 2005

Das ohnehin schon gefährlich spannende Blog Sätze&Schätze ist für mich jüngst noch um einiges gefährlicher geworden. Seit es seiner Betreiberin Birgit gefiel, die neue Kategorie Reiseliteratur ins Leben zu rufen, um genau zu sein. Und nun schickt sie ihre Leser auch noch in die Wüste. Ausgerechnet. Wie soll man denn da ruhig am Schreibtisch sitzen bleiben? Aber wer weiß, vielleicht soll man das ja gar nicht.

P1030322Zumindest in Gedanken nehme ich mir jetzt einfach eine Auszeit und blättere in zwei großformatigen Wüsten(ver)führern, auf die ich hier schon längst einmal hinweisen wollte. Vom Gehen in der Wüste erzählen beide, in wunderbar klugen Texten und mit Bildern, die einem die Tränen in die Augen steigen lassen, so schön sind sie. Ach, ich könnte schwärmen ohne Ende. Und Zitat an Zitat reihen:

P1030302„die wüste ist eine denklandschaft. man geht nicht nur zwischen dünen, man geht auch in seinem eigenen denken umher, man macht gedankengänge. im gehen verändert sich die landschaft von bild zu bild. es verändert sich auch der gedankenhorizont. das auge zieht es mal hier, mal dort hin, auch die gedanken wildern umher. man wirft sie hinaus, als entwürfe. so ist ein nicht eigentlich geschriebenes buch entstanden. es hat keinen anfang, kein ende, keinen roten faden. man mag deshalb auch nachsichtig sein einer typographie gegenüber, die verschlungen ist wie ein gang durch dünen.“

 

P1030314Der das schrieb, war Grafiker durch und durch: Otl Aicher (1922-1991), Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung in Ulm und einer der bedeutendsten Kommunikationsdesigner des 20. Jahrhunderts. Den Wüstengänger Aicher zog es wiederholt in die Sahara, allein oder in Begleitung seines jüngsten Sohnes und eines befreundeten Architekten. Was von diesen Reisen blieb, ist nicht mehr und nicht weniger als ein grafisches Gesamtkunstwerk, das in der Tat dazu einlädt, es mäandernd zu genießen. Zu blättern, spontan dem Sog eines Bildes nachzugeben, ein paar Zeilen oder auch Seiten zu lesen, erneut und mit noch mehr Tiefe in die Bilder einzutauchen oder auch mal in eigene Gedanken und Erinnerungen, irgendwann weiterzublättern, um an anderer Stelle erneut zu verweilen.

P1030305Dem Sprach- und Kulturwissenschaftler Jürgen Werner folgt man am besten chronologisch durch sein ebenso praktisches wie spirituell-philosophisches Wüstenwanderbuch. Werner hat immer wieder Zeit mit und bei den Beduinen auf dem Sinai und im Süden Jordaniens verbracht, in deren Kultur ich selbst erst vor wenigen Monaten allererste zarte Einblicke gewann. Ein paar Bilder genügen, und sofort ist es zurück, dieses Gefühl von Stille und unendlicher Weite. Ah… bittersüßes Fernweh!

P1030295„Keine Wüste lädt uns zum Verweilen ein. Sie ist ein atemberaubend schöner, aber auch ein unwirtlicher Ort. Kein Platz, an dem man heimisch werden und sich niederlassen kann. Die Wüste ist ein Ort, den man durchquert. … In der Wüste sein heißt unterwegs sein, nicht nur in einer räumlichen, sondern auch einer seelischen Dimension. Wanderer in der Wüste sein heißt auch Wanderer zu sich selbst sein, das eigene Seelengepäck auf dem Rücken.“ Jürgen Werner empfiehlt Wüstenreisenden, sich eine Frage mitzunehmen, die beantwortet, ein Problem, das gelöst, eine Entscheidung, die getroffen werden will. Er weiß: „Entscheidungen, die du auf einem Wüstenweg triffst, können nicht falsch sein, denn sie kommen aus deinem tiefsten Inneren. Du musst nichts anderes tun, als die Empfehlungen der Wüste zu befolgen.“