Frisch gewaschen

Kürzlich kam ein Wort zu mir,
staubig wie ein Wedel,
wirr das Haar, das Auge stier,
doch von Bildung edel.

Als ich, wie es hieße, frug,
sprach es leise: „Herzlich“.
Und aus seinem Munde schlug
eine Lache schmerzlich.

„Wertlos ward ich ganz und gar,“
rief’s, „ein Spiel der Spiele,
Modewort mit Haut und Haar,
Kaviar für zu viele.“

Doch ich wusch’s und bot ihm Wein,
gab ihm wieder Würde,
und belud ein Brieflein fein
mit der leichten Bürde.

Schlafend hat’s die ganze Nacht
weit weg reisen müssen.
Als es morgens aufgewacht,
kam ein Mund – es küssen.

Christian Morgenstern: Das Wörtlein

So, nach dieser Reinigungsaktion kann die neue Woche beginnen – mit herzlichen Grüßen!

Mütterchen Dämmerung

Eine runzelige Alte,
schleicht die Abenddämmerung,
gebückten Ganges
durchs Gefild
und sammelt und sammelt
das letzte Licht
in ihre Schürze.

Vom Wiesenrain,
von den Hüttendächern,
von den Stämmen des Walds,
nimmt sie es fort.
Und dann
humpelt sie mühsam
den Berg hinauf
und sammelt und sammelt
die letzte Sonne
in ihre Schürze.

Droben umschlingt ihr
mit Halsen und Küssen
ihr Töchterchen Nacht
den Nacken
und greift begierig
ins ängstlich verschlossene
Schurztuch.

Als es sein Händchen
wieder herauszieht,
ist es schneeweiß,
als wär es mit Mehl
rings überpudert.

Und die Kleine,
längst gewitzt,
tupft mit dem
niedlichen Zeigefinger
den ganzen Himmel voll
und jauchzt laut auf
in kindlicher Freude.
Ganz unten aber
macht sie einen großen,
runden Tupfen –
das ist der Mond.

Mütterchen Dämmerung
sieht ihr mit mildem
Lächeln zu.
Und dann geht es
langsam
zu Bette.

Christian Morgenstern: In Phanta’s Schloss – Abenddämmerung

Komm gut in die neue Woche!

Moments and memories

Wie ist dir nun,
meine Seele?
Von allen Märkten
des Lebens fern,
darfst du nun ganz
dein selbst genießen.

Keine Frage
von Menschenlippen
fordert Antwort.
Keine Rede
noch Gegenrede
macht dich gemein.
Nur mit Himmel und Erde
hältst du
einsame Zwiesprach.
Und am liebsten
befreist du
dein stilles Glück,
dein stilles Weh
in wortlosen Liedern.

Wie ist dir nun,
meine Seele? Von allen Märkten
des Lebens fern
darfst du nun ganz
dein selbst genießen.

Christian Morgenstern: Am Meer

Gesichter einer Landschaft

Jede Landschaft hat ihre eigene, besondere Seele, wie ein Mensch, dem du gegenüber lebst.

Christian Morgenstern

Verliere dein Geheimnis nicht vor mir,
Ich bitte dich, verbirg mir deine Reize,
Und wenn ich sehnlich nach Erkenntnis geize,
So schweige sphinxhaft meiner Wissbegier.
Erkennen heisst, ich hab‘ es längst erkannt,
Die Welt in seine armen Grenzen pferchen;
Du lehre mich aus deinen hundert Lerchen,
Dass deine Schönheit kein Verstand umspannt.

Christian Morgenstern: An eine Landschaft

Schau mir in die Augen

P1150488Was sich nahe ist, nähert sich mit der Zeit einander an. Paare zum Beispiel oder Hunde und ihre Besitzer. Gelegentlich scheint das auch auf benachbarte Werbung zuzutreffen.

Die Nähe ging verträumt umher… / Sie kam nie zu den Dingen selber. / Ihr Antlitz wurde gelb und gelber, / und ihren Leib ergriff die Zehr.

Doch eines Nachts, derweil sie schlief, / da trat wer an ihr Bette hin / und sprach: »Steh auf, mein Kind, ich bin / der kategorische Komparativ!

Ich werde dich zum Näher steigern, / ja, wenn du willst, zur Näherin!« – / Die Nähe, ohne sich zu weigern, / sie nahm auch dies als Schicksal hin.

Als Näherin jedoch vergaß / sie leider völlig, was sie wollte, / und nähte Putz und hieß Frau Nolte / und hielt all Obiges für Spaß.

Christian Morgenstern: Die Nähe

Zwischen Himmel und Erde

p1160798wo Räume weit werden

p1160793und Grenzen verschwimmen

p1160797Fürchte nie, zu überraschen.
Das „harmonische Gesetz“
ist ein Netz mit güldnen Maschen.
Du sei wider jedes Netz.

Denn allein das einzig Deine,
Deines Wesens letzter Schluss,
ist das unersetzlich Eine,
was ich von dir fordern muss.

Christian Morgenstern: Suprema Lex

Nordisch by nature

P1150606Hier ist ja nichts! Das Gesicht der älteren Berlinerin ist eine Mischung aus Staunen und Entsetzen, der Vorwurf in ihrer Stimme nicht zu überhören. Kein Wasser, sagt sie. Noch nicht mal Strand. Wann immer sie über den Deich geschaut habe, sei das so gewesen, nun schon den dritten Tag.

P1150577Der Deich, das ist die Trennlinie. Mit jedem Schritt den grünen Wall hinauf wird der Wind stärker. Sobald du oben stehst und dir die flatternden Haare aus dem Gesicht streichst, gibt es keine Grenzen mehr. So weit reicht der Blick, dass du meinst, die Krümmung der Erdoberfläche zu sehen.

P1150643Das ist’s, was mich hier so entzückt:
Diese unbedingte Weite,
dieser Horizont in Tief‘ und Breite
verschwenderisch hinausgerückt.

Christian Morgenstern: Weiter Horizont

P1150802Was du siehst, erscheint dir vielleicht nicht spektakulär. Links viele Kilometer Deich. Rechts viele Kilometer Deich. Vor dir ein paar Strandkörbe. Oder Schafe. Dahinter die Nordsee. Kann sein, sie ist gerade wieder einmal nicht da und du erkennst nur so ein schmales Geriffel weit draußen.

P1150677Und mittendrin Neptuns Schloss, das eigentlich eine Bohrinsel ist.

P1150615Zwischen Salzwiesen und Watt führt ein steinerner Damm hinaus aufs offene Meer. Und während ein vielstimmiger Vogelchor sogar den Wind übertönt, wird dein Atem allmählich tief und ruhig.

P1150581Es schmückt sich das Watt in den Farben des Himmels. Zuerst in allerlei Grau- und Blautönen.

P1150665Später am Nachmittag glitzert es in silberner Robe. Das ist die Zeit, in der ein Spaziergang Richtung Horizont besonders magisch ist.

P1150823Marie! ruft ein junger Vater seiner kleinen Tochter zu. Weißt du, was das Besondere ist: Wir laufen auf dem Meeresboden! Marie ist das egal. Ihr Himmel ist schlammfarben. Beseeligt vom Schmatzen des Schlicks unter ihren nackten Füßchen gräbt sie mit beiden Händen nach Muscheln und Wattwürmern.

P1150725Am Abend glüht das menschenleere Watt noch einmal in Orange, Rot und Rosé, bevor es erlischt.

P1150738Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmerung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.

Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.

Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen –
So war es immer schon.

Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.

Theodor Storm: Meeresstrand

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An die Wolken

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Und immer wieder,
wenn ich mich müde gesehn
an der Menschen Gesichtern,
so vielen Spiegeln
unsäglicher Torheit,
hob ich das Aug
über die Häuser und Bäume
empor zu euch,
ihr ewigen Gedanken des Himmels.
Und eure Größe und Freiheit
erlöste mich immer wieder,
und ich dachte mit euch
über Länder und Meere hinweg
und hing mit euch
überm Abgrund Unendlichkeit
und zerging zuletzt
wie Dunst,
wenn ich ohn‘ Maßen
den Samen der Sterne
fliegen sah
über die Äcker
der unergründlichen Tiefen.

Christian Morgenstern: An die Wolken

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Tagnachtlampe

P1140475Korf erfindet eine Tagnachtlampe,
die, sobald sie angedreht,
selbst den hellsten Tag
in Nacht verwandelt.

Als er sie vor des Kongresses Rampe
demonstriert, vermag
niemand, der sein Fach versteht,
zu verkennen, dass es sich hier handelt –

(Finster wirds am hellerlichten Tag,
und ein Beifallssturm das Haus durchweht.)
(Und man ruft dem Diener Mampe:
„Licht anzünden!“) – dass es sich hier handelt

um das Faktum: dass gedachte Lampe,
in der Tat, wenn angedreht,
selbst den hellsten Tag
in Nacht verwandelt.

Christian Morgenstern: Die Tagnachtlampe

P1140475Genau so kam es mir vor, als ich vor ein paar Tagen durch eine Autobahnunterführung in Hamburg-Wilhelmsburg radelte. Wir befanden uns kalendarisch zwar schon mitten in den Eisheiligen – man schrieb den Heiligen Servatius, um genau zu sein -, aber hier im Norden war nicht nur hellerlichter Tag, tatsächlich war es auch immer noch sommerlich warm. Nun ist auch die Kalte Sophie gegangen. Ihre Kälte hat sie uns zurückgelassen – und irgendjemand knipst gefühlt alle paar Minuten die Tagnachtlampe an und aus. Aprilwetter.

Was einem so fremd ist

Also, die Geschichte kam mir doch ziemlich spanisch vor. Das hätte ich A., der sie mir erzählt hatte, auch gern gesagt. Die Sache hatte nur einen klitzekleinen Haken: A. war Spanier. Kaum anzunehmen, dass er mich verstanden hätte. Für einen Spanier ist alles Spanische ja alles andere als spanisch und das, was ihm seltsam erscheint – chinesisch. So wie für einen Briten griechisch. Das war schon zu Shakespeares Zeiten so („…those that understood him smiled at one another and shook their heads; but for mine own part, it was Greek to me” lässt der Dichter in der Tragödie des Julius Caesar einen der Verschwörer sagen), und das gilt bis heute. Ich versuche gerade mir vorzustellen, was wohl der englische Finanzminister nach einem Treffen mit seinem griechischen Amtskollegen so sagt respektive denkt…

Aber zurück zu dem, was uns Deutschen fremd ist bzw. war. Ganz sicher ist die Herkunft der Redewendung „Das kommt mir spanisch vor“ zwar nicht, aber es gibt, wie ich bei meinen Recherchen zwischen Wikipedia und dem Wörterbuch der Gebrüder Grimm feststellte, so etwas wie eine herrschende Meinung. Danach stammt der Ausdruck wahrscheinlich aus dem 16. Jahrhundert, als Kaiser Karl V., der seit 1516 spanischer König war, wenige Jahre später erst zum römisch-deutschen König, dann zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gekrönt wurde. Der neue Kaiser führte eine Reihe ungewöhnlicher Sitten an seinem Hof ein, unter anderem erklärte er Spanisch zur neuen Verkehrssprache. Kein Wunder, wenn das den Untertanen „spanisch“ vorkam.

Ebenfalls dem Hause Habsburg (allerdings wohl erst nach der Trennung in eine österreichische und eine spanische Linie) verdankt der deutsche Redensarten-Schatz übrigens die in der Bedeutung verwandte Wendung „Das sind böhmische Dörfer für mich“: Während im Kernland des zur Habsburgermonarchie gehörenden Königreichs Böhmen Tschechisch („Böhmisch“) gesprochen wurde, sprach man in den Randgebieten Deutsch. Wer von dort beispielsweise nach Prag reiste, passierte allerlei „böhmische Dörfer“ und andere Fremdartigkeiten. Eines von Christian Morgensterns „Galgenliedern“ erzählt davon:

Palmström reist, mit einem Herrn v. Korf,
in ein sogenanntes Böhmisches Dorf.
Unverständlich bleibt ihm alles dort,
von dem ersten bis zum letzten Wort.
Auch v. Korf (der nur des Reimes wegen
ihn begleitet) ist um Rat verlegen.
Doch just dieses macht ihn blass vor Glück.
Tiefentzückt kehrt unser Freund zurück.
Und er schreibt in seine Wochenchronik:
Wieder ein Erlebnis, voll von Honig!

Der Versuch, A. all dies in (zurückhaltend formuliert) eingerostetem Spanisch zu vermitteln, war herausfordernd, aber der Völkerverständigung durchaus förderlich. Und die Geschichte, die mir so spanisch vorkam? Tut hier weiter nichts zur Sache…