Hören gehen

Was ich sehe, kenne ich, aber längst nicht alles, was ich höre. Die Augen halten offenbar Stand mit meinem schnellen Alltagsschritt. Die Ohren nicht so gut. Erst jetzt, da ich gelegentlich so langsam gehe, dass ich beinah schon stehe, merke ich, was ich in meinem üblichen Tempo alles nicht höre. Bewusst setze ich einen Schritt vor den anderen, beginne den einen Fuß erst vom Boden zu lösen, nachdem der andere dort wieder ganz gelandet ist. Ich habe nicht gewusst, w i e langsam das ist. Linker Fuß: heben, durch die Luft führen, absetzen. Linkes Knie anwinkeln, rechtes Bein durchstrecken. Rechter Fuß: heben, durch die Luft führen, absetzen.

Was ich sehe, kommt mir bekannt vor. Nicht unbedingt, weil ich es genau so schon gesehen habe, eher, weil ich es so oder so ähnlich auch sehen würde, wenn ich schneller ginge. Das mag daran liegen, dass ich ein visueller Mensch bin. Mit den Augen nehme ich viel und rasch wahr. Meine Ohren brauchen offenbar mehr Zeit. Was ich alles höre, während ich mich in Zeitlupe durch den Sound meiner Umgebung bewege! Es ist ein bisschen so, wie auf einer Wanderung eine Weile still zu verharren. Und plötzlich erklingen sie wieder, die Stimmen und Töne des Waldes.

Es fällt mir schwer, so langsam zu gehen, wenn andere Menschen in der Nähe sind. Wie der sich bewegt! Dem könnte man im Gehen die Schuhe besohlen! sagten sie bei uns im Ort, als ich ein Kind war. Ein Kompliment war das nicht. Und heute? Blafft ein Fahrradfahrer, während er eng an mir vorbeizieht: Wohin schleichst du denn so! Manches würde man lieber nicht hören.

Es fällt mir nicht leicht, so langsam zu gehen, auch wenn da sonst niemand ist. Geduld zählt nicht zu meinen Stärken. So ein kleines Stück habe ich erst geschafft! Wie lange ich wohl bräuchte für meine Lieblingsrunde durch den Stadtpark?

Noch sind meine Schritte unsicher bei diesem langsamen tastenden Gehen. Immer von neuem: präsent und bereit zu handeln, aber noch nicht handelnd. Das ist ungewohnt. Und sehr inspirierend.

Vom Wandern

IMG_7122Die meisten werden an mehr oder weniger unberührte Natur denken, aber wandern kann man im Prinzip überall. Ich bin zum Beispiel kürzlich 100 Kilometer durch Hamburg gegangen, in einem großen grünen Kreis einmal um das Rathaus herum, vom Fähranleger Teufelsbrück bis nach Finkenwerder auf der anderen Elbseite. Durch Parks und Kleingartensiedlungen, durch Wald und Wiesen, an Bächen, Flüssen und Seen entlang, über Friedhöfe und manchmal auch Straßen. Vordergründig ging es darum, die neuen Wanderschuhe einzulaufen und ein bisschen Kondition für die Berge aufzubauen. Aber vor allem hoffte ich, den Kopf frei zu bekommen, auch wenn die Zeit nur für den ein’ und anderen Tagesmarsch reichte. Was soll ich sagen: Es hat funktioniert, selbst mitten in der großen Stadt.

„Wir denken weniger, wenn wir weit gehen, wir gleiten in den Rhythmus des Gehens, und die Gedanken enden, werden zu einer konzentrierten Aufmerksamkeit, die darauf gerichtet ist, was wir sehen und hören, was wir riechen; diese Blume, der Wind, die Bäume, als würden die Gedanken umgeformt und zu einem Teil dessen werden, was ihnen begegnet; ein Fluss, ein Berg, ein Weg.“ So schreibt der Norweger Tomas Espedal in seinem 2011 ins Deutsche übersetzten philosopischen Roman über das „Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen“, den ich gerade noch einmal zur Hand genommen habe.

IMG_7193Hängen geblieben bin ich bei dieser Passage:

„Einsamkeit. Ein, zwei Namen. Wenn man weit und lange genug auf dem Weg gegangen ist, seinem Weg, bleiben einem noch ein oder zwei Freunde, ein, zwei Namen, das ist alles. Mehr wären ein sicheres Zeichen dafür, dass wir in die Irre gegangen sind, denke ich im Gebirge. Die Gedanken verändern sich in den Bergen. Ihre Zahl wird geringer, aber man denkt konzentrierter, je mehr sich die Bergwelt öffnet und weitet. Man denkt besser, wenn man in den Bergen geht. Man beschließt, weniger umgänglich zu werden, man denkt gefährlicher in den Bergen. Mehr als ein oder zwei Freunde zu haben ist unanständig, falsch, denke ich in den Bergen. Wie viele Freunde habe ich? Ich hatte viele, jetzt habe ich noch zwei. Zwei gute Freunde. Das ist alles. Das ist genug. Vielleicht habe ich sogar nur einen. Einen einzigen Freund. Das ist die Wahrheit. Ich bin zufrieden. Ein guter Freund, fast wie eine Geliebte. Man denkt weniger vorsichtig in den Bergen, Berggedanken, denke ich und gehe in den Schnee hinaus, folge dem Rand eines Schneefelds, das steil zu einem Bergsee abfällt. Sollte ich jetzt in eine Spalte stürzen, über den Grat rutschen und nicht mehr sein, hätte es seine Richtigkeit.“

IMG_7181Wie zugewandt klingt dagegen der „Gesang von der freien Straße“ des amerikanischen Dichters Walt Whitman (1819-1892), besonders die 5. Strophe:

„Von dieser Stunde ab erkläre ich mich befreit von allen Einschränkungen und eingebildeten Scheidelinien;
Wohin ich will, geh‘ ich; ganz unbedingt mein eigner Herr;
Höre den andern zu und überlege wohl, was ich sage;
Verweile, forsche, empfange, betrachte;
Entziehe mich lind, aber mit unwiderstehlicher Willenskraft den Banden, die mich halten wollten.
Ich atme den Raum ein in großen Zügen.
Ost und West sind mein, Nord und Süd sind mein.
Größer bin ich, besser als ich dachte.
Ich hätte nicht gedacht, daß ich so viel Gutes enthielte.
Alles kommt mir schön vor.
Ich kann Männern und Frauen gegenüber wiederholen: ‚Ihr habt mir so viel Gutes getan, ich möchte euch ebensoviel Gutes tun.
Ich werde für mich und für euch werben, wo immer ich gehe.
Ich will mich ausstreuen unter Männer und Frauen, wo immer ich gehe.
Ich werde unter sie werfen neue Freude und neue Rauhheit.
Wenn mich wer abweist: es soll mich nicht kümmern.
Wenn mich wer aufnimmt: er oder sie soll gesegnet sein und soll mich segnen.’“

Je öfter ich die beiden Abschnitte lese, desto weniger rigoros erscheint mir der erste, desto weniger weich der zweite. In beiden sprudelt dieselbe Quelle, aus der sich alles speist: Unabhängigkeit, Stärke, Ehrlichkeit, Kraft. Und Bindung – wo und solange es passt. Ja, ich glaube, man wird leichter beim Wandern und auf eine ruhige Art entschiedener, kompromissloser. Dass Walt Whitman mehr ein Wanderer im Herzen als der Tat war, sei der Vollständigkeit halber erwähnt. Der Schönheit und Tiefe seiner Gedanken tut es keinen Abbruch, wie ich finde.

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