Vom Wandern

IMG_7122Die meisten werden an mehr oder weniger unberührte Natur denken, aber wandern kann man im Prinzip überall. Ich bin zum Beispiel kürzlich 100 Kilometer durch Hamburg gegangen, in einem großen grünen Kreis einmal um das Rathaus herum, vom Fähranleger Teufelsbrück bis nach Finkenwerder auf der anderen Elbseite. Durch Parks und Kleingartensiedlungen, durch Wald und Wiesen, an Bächen, Flüssen und Seen entlang, über Friedhöfe und manchmal auch Straßen. Vordergründig ging es darum, die neuen Wanderschuhe einzulaufen und ein bisschen Kondition für die Berge aufzubauen. Aber vor allem hoffte ich, den Kopf frei zu bekommen, auch wenn die Zeit nur für den ein’ und anderen Tagesmarsch reichte. Was soll ich sagen: Es hat funktioniert, selbst mitten in der großen Stadt.

„Wir denken weniger, wenn wir weit gehen, wir gleiten in den Rhythmus des Gehens, und die Gedanken enden, werden zu einer konzentrierten Aufmerksamkeit, die darauf gerichtet ist, was wir sehen und hören, was wir riechen; diese Blume, der Wind, die Bäume, als würden die Gedanken umgeformt und zu einem Teil dessen werden, was ihnen begegnet; ein Fluss, ein Berg, ein Weg.“ So schreibt der Norweger Tomas Espedal in seinem 2011 ins Deutsche übersetzten philosopischen Roman über das „Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen“, den ich gerade noch einmal zur Hand genommen habe.

IMG_7193Hängen geblieben bin ich bei dieser Passage:

„Einsamkeit. Ein, zwei Namen. Wenn man weit und lange genug auf dem Weg gegangen ist, seinem Weg, bleiben einem noch ein oder zwei Freunde, ein, zwei Namen, das ist alles. Mehr wären ein sicheres Zeichen dafür, dass wir in die Irre gegangen sind, denke ich im Gebirge. Die Gedanken verändern sich in den Bergen. Ihre Zahl wird geringer, aber man denkt konzentrierter, je mehr sich die Bergwelt öffnet und weitet. Man denkt besser, wenn man in den Bergen geht. Man beschließt, weniger umgänglich zu werden, man denkt gefährlicher in den Bergen. Mehr als ein oder zwei Freunde zu haben ist unanständig, falsch, denke ich in den Bergen. Wie viele Freunde habe ich? Ich hatte viele, jetzt habe ich noch zwei. Zwei gute Freunde. Das ist alles. Das ist genug. Vielleicht habe ich sogar nur einen. Einen einzigen Freund. Das ist die Wahrheit. Ich bin zufrieden. Ein guter Freund, fast wie eine Geliebte. Man denkt weniger vorsichtig in den Bergen, Berggedanken, denke ich und gehe in den Schnee hinaus, folge dem Rand eines Schneefelds, das steil zu einem Bergsee abfällt. Sollte ich jetzt in eine Spalte stürzen, über den Grat rutschen und nicht mehr sein, hätte es seine Richtigkeit.“

IMG_7181Wie zugewandt klingt dagegen der „Gesang von der freien Straße“ des amerikanischen Dichters Walt Whitman (1819-1892), besonders die 5. Strophe:

„Von dieser Stunde ab erkläre ich mich befreit von allen Einschränkungen und eingebildeten Scheidelinien;
Wohin ich will, geh‘ ich; ganz unbedingt mein eigner Herr;
Höre den andern zu und überlege wohl, was ich sage;
Verweile, forsche, empfange, betrachte;
Entziehe mich lind, aber mit unwiderstehlicher Willenskraft den Banden, die mich halten wollten.
Ich atme den Raum ein in großen Zügen.
Ost und West sind mein, Nord und Süd sind mein.
Größer bin ich, besser als ich dachte.
Ich hätte nicht gedacht, daß ich so viel Gutes enthielte.
Alles kommt mir schön vor.
Ich kann Männern und Frauen gegenüber wiederholen: ‚Ihr habt mir so viel Gutes getan, ich möchte euch ebensoviel Gutes tun.
Ich werde für mich und für euch werben, wo immer ich gehe.
Ich will mich ausstreuen unter Männer und Frauen, wo immer ich gehe.
Ich werde unter sie werfen neue Freude und neue Rauhheit.
Wenn mich wer abweist: es soll mich nicht kümmern.
Wenn mich wer aufnimmt: er oder sie soll gesegnet sein und soll mich segnen.’“

Je öfter ich die beiden Abschnitte lese, desto weniger rigoros erscheint mir der erste, desto weniger weich der zweite. In beiden sprudelt dieselbe Quelle, aus der sich alles speist: Unabhängigkeit, Stärke, Ehrlichkeit, Kraft. Und Bindung – wo und solange es passt. Ja, ich glaube, man wird leichter beim Wandern und auf eine ruhige Art entschiedener, kompromissloser. Dass Walt Whitman mehr ein Wanderer im Herzen als der Tat war, sei der Vollständigkeit halber erwähnt. Der Schönheit und Tiefe seiner Gedanken tut es keinen Abbruch, wie ich finde.

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38 Kommentare zu “Vom Wandern

  1. Danke für diesen Beitrag und die wunderschönen Fotos. Ich gehe keine weiten Strecken, aber ich gehe immer öfter und empfinde es sehr bereichernd, den Raum mit meinen Füßen zu ermessen, im eigenen Rhythmus, der eigenen Geschwindigkeit, unabhänge von Vorgaben und Anordnungen. Wenn ich gehe, kehrt Ruhe in meine Gedanken ein. Sie werden klarer und ich empfinde mich leichter, bin meinen Füßen dankbar und meinen Beinen, das sie mich schon so lange Zeit sicher über alle Wege leiten. Interessante Bücher, die gleich auf meine Bücherwunschliste kommen. Danke!

  2. Tomas Espedal … nun lese ich diesen Namen schon zum zweiten Mal und lese ein paar wenige Worte, die es in sich haben, das wird wohl meine Winterlektüre, ich bin sehr neugierig auf diesen norwegischen Autor.
    Liebe Maren, du hast wunderbare Bilder mitgebracht, ob du einen Berg umrundet hast 😉
    herzliche Grüsse von der Einäugigen

    • Circling around stony hills… Du bringst mich zum Lachen, liebe Ulli. Von Tomas Espedal kenne ich bisher nur „Gehen“, das mir mit seinen einfühlsamen Beobachtungen, klugen Gedanken und der klaren poetischen Sprache sehr gefällt. Alles Gute dir! (In Wahrheit bist du ja nicht mal mit Augenklappe „einäugig“.)

      • Jetzt habe ich mir erst einmal von ihm Wider der Kunst bestellt, „Gehen“ ist ja urs teuer, da muss ich wieder erst einmal sparen 😉 die Eineinhalbäugige lacht dir zu und grüsst nochmals sehr herzlich

      • Nein, überhaupt nicht, das bestellte kostet 10 €, „Gehen“ gibt es ab 35 € aufwärts und das auch nur gebraucht, scheint vergriffen zu sein. Leider!

  3. Liebe Maren, toller Beitrag! Was für Photos … Ich bin ja in der glücklichen Lage, dass ich schon ganz wilde Gedanken denke, wenn ich mir nur vorstelle, ich wäre wandernd in den Bergen … Wobei so eine Bremen-Umrundung könnte ich mir auch ganz gut vorstellen – zum Einlaufen meiner Wanderstiefel 😉 Ich grüße dich sehr herzlich!

    • Da bist du ja wieder, liebe Jutta!
      Ich glaube, als er den folgenden Gedanken notierte, hat Tomas Espedal – auch – an dich gedacht:
      „Es gibt viele Arten zu reisen und es gibt viele Arten, daheim zu sein; wir reisen vorwärts und rückwärts in Zeit und Geographie, in Büchern und Erzählungen, auf kurzen und langen Reisen in der Fantasie und der Erinnerung, anhand einer Karte und in unbekannten Gegenden; wir können im eigenen Wohnzimmer auf und davon ziehen. Wir können uns auf den erstbesten Stuhl hinter den Schreibtisch am Fenster setzen und anfangen zu schreiben.“
      Liebe Grüße!

      • Liebe Maren, ja, ich gönne mir ein richtig freies Wochenende und schmökere nach Herzenslust in der Gegend herum (und ich bin mit dem Projekt, das am kompliziertesten war, so weit, dass ich auch wieder Lust auf kleine Ausflüge bekomme). Der Espedal hört sich wirklich SEHR vielversprechend an. Hast du zufälligerweise „Wider die Kunst“ auch gelesen?

      • Nein, „Wider die Kunst“ kenne ich noch nicht. Ein paar Besprechungen, die ich las, machen mir durchaus Appetit. Aber erst einmal will ich einen Teil der vorhandenen Stapel abtragen. Dir weiterhin viel Freude und gute Fortschritte mit deinen Projekten!

      • Ach, dann beginne ich vielleicht damit und melde mich gelegentlich, wie meine Eindrücke sind … Vielen Dank für deine guten Wünsche – gerade sehe ich mal wieder (endlich!) Land in Sicht 😉

    • Jaaa… wenn der Rhythmus gefunden ist, der Rucksack nicht allzu schwer und die Füße nicht allzu müde sind. 🙂 Danke für dein schönes Feedback und herzliche Wandergrüße!

    • „… dass wir ein paar Tage brauchten, bis aus Kargheit Schönheit wurde…“
      Das Gefühl kenne ich auch, Sabine. Nun besitze ich auch die passenden Worte dazu. Danke!

  4. Liebe Maren,
    mich haben Bilder und Texte auch sehr beeindruckt. Und dann schon wieder Tomas Espedal, der mir in dieser Woche schon einmal so beeindruckend begenet ist, dass nun „Wider die Kunst“ zum Lesen bereit liegt. Und seine Gedanken zum und über das Wandern, über das Konzentrieren der Gedanken, über das Gefährlicher-Werden der Gedanken, das gefällt mir sehr gut. Es scheint, als müsste ich noch ein weiteres Buch von Espedal ganz dringend kennenlernen. – Warum aber verändert sich diese Art des Denkens wieder so schnell, sobald man den Bergen den Rücken gekehrt und in den Alltag zurückgekehrt ist? Warum lässt sich so wenig von den freien und gefährlichen Gedanken über eine längere Zeit erhalten?
    Viele Grüße, Claudia

    • Liebe Claudia,
      vielen Dank für deine Gedanken und Fragen, die mir nun schon eine Weile in Kopf und Bauch herumgehen. Ja, warum? Ich denke, da kommt viel zusammen: Von außen und besonders von oben ist der Blick oft klarer als mittendrin. Beim Gehen kommt auch im Kopf mehr in Bewegung als im Sitzen. Große Intensität ist nach meiner Erfahrung ohnehin eher etwas für Momente als für die Dauer. Auch der nach schwerer Krankheit Genesene, der sich vornimmt, fortan ganz bewusst zu leben, gerät ja nur allzu leicht wieder in den alten Trott. Aber am Ende hat das Festhalten am Alten, obwohl man es in der klaren Bergluft für veränderungswürdig befand, m.E. vor allem mit Angst zu tun. „Gefährliche“ Gedanken in die Tat umzusetzen, hat seinen Preis, und ein Zugewinn an Freiheit bedeutet oft auch ein Mehr an Einsamkeit. „Die Liebe verlangt von uns, dass wir nicht fortgehen, sondern sesshaft werden, an einem Ort bleiben; Bewegung ist Einsamkeit“, schreibt Tomas Espedal. Das Gute ist: Auch der Sesshafte kann immer wieder losgehen, den Kopf durchlüften, sich inspirieren und bei Bedarf auch „radikalisieren“ lassen. Ja, ich glaube, „Gehen“ könnte dir gefallen. Es fließt ein bisschen viel Alkohol, aber das kennst du ja schon von Sylvain Tesson „In den Wäldern Sibiriens“. 😉
      Ein schönes Wochenende!

  5. Herzlichen Dank für diesen Artikel, er bereichert meine Gedanken und Leseintentionen….
    Fantastische Bilder ! Welches Gestein ist das helle, oder ist das Salz oder Schnee oder Elfenschleier. Glatt würde ich es glauben, wenn du es mir versicherst.
    Und dazu der Kommentar von Sabine Waldmann „bis aus Kargheit Schönheit wurde ….“
    Alles zusammen, sehr inspirierend …

    • Elfenschleier, liebe Myriade, ich votiere unbedingt für Elfenschleier! Schon wegen der unmittelbaren Nachbarschaft zum Mount Ngauruhoe, vielen besser bekannt als Schicksalsberg aus Peter Jacksons Trilogie „Der Herr der Ringe“. Die phantastische Mondlandschaft auf der neuseeländischen Nordinsel ist durch Lava-Ausgüsse entstanden, die Farben des Gesteins (und mehrerer herrlich türkiser Seen) werden vor allem von Mineralien erzeugt.
      Freut mich sehr, dass dich der Beitrag inspiriert hat. Und du hast Recht: Der Kommentar passt wunderbar zu den Bildern. Ich hatte absichtlich eine karge Landschaft zur Illustration gewählt, damit beim Lesen viel Raum für eigene Gedanken bleibt.

  6. Wandern ist eine Lebensform, uns Deutschen sehr nahe. Wieviele Volkslieder! Ich träumte davon, doch in der Praxis neige ich mehr zum Peripato (gr: Herumgehen) – weit oder nah, In Bewegung sein, unter Menschen oder allein, im Gespräch mit einer Freundin oder mit einem Berg, einem See. Mir ist wichtig das Gefühl, dass ich, einen Fuß hebend und den anderen schon fast nicht mehr am Boden, senkrecht zum All mich bewege und die Augen schweifen lasse. Und sich die Welt in immer neuen Bildern entfaltet – wie auf deinen herrlichen Fotos. Liebe Grüße aus der Mani.

    • Schön, wie du dein Umherstreifen beschreibst, Gerda. Das Wort „Peripato“ klingt sehr harmonisch dazu. Ja, die Deutschen und das Wandern… Ich selbst folge da lieber den Spuren eines Johann Gottfried Seume als den lärmenden Massen „im Frühtau zu Berge“. 😉 Herzliche Grüße!

  7. Bestimmt sind wir uns schon unzählige Male begegnet. Ich bin die ohne Wanderschuhe und Hund.

    • Wer weiß? Vielleicht haben wir uns sogar schon freundlich zugelächelt und uns gegenseitig einen schönen Tag gewünscht? Falls nicht, tue ich es jetzt! 🙂

      • Dir auch. Bei der nächsten Begegnung frage ich dann: „Wohin des Wegs?“

  8. Wie froh ich bin zufällig auf Deinen Beitrag gestoßen zu sein! Wunderbare Worte! Gedankengänge, die mit mir verwandt sind.
    Wegen all diesen Gedanken bin ich dort, wo ich gerade bin.
    Deine Lesetipps – sehr inspirierend!

    • Hallo Timo, wenn das kein feines Feedback ist! Ich freue mich, dass dich der Beitrag erreicht hat – und das gleich doppelt. Wenn du erst in den Bergen unterwegs bist, schaue ich mal wieder bei dir vorbei und hole mir eine Portion Fernweh ab. 🙂 Viele Grüße und Berg heil!

  9. Hallo Maren,
    da kann ich Dir zustimmen, es klappt auch in der Stadt….ich gehe dann los , die Kamera im Rucksack und ohne bewusstes Ziel….auch durch Teile der Stadt durch die man sonst nur mit dem Auto durchfährt…und bin dann immer wieder überrascht von all den neuen Entdeckungen und sichtbaren Veränderungen…das Wandern bedeutet nicht so angestrengt auf den Verkehr achten zu müssen…dadurch bleiben Zeit für andere Gedanken und Ideen….und wenn ich wirklich Grün um mich haben will nehme ich das Rad…das ist zwar innerhalb von Hamburg Stress Hoch 2 aber wenn man es dann bis Vierlande oder in den Hafen geschafft hat….
    Lieber Gruss,
    Jürgen

  10. Hach, liebe Maren, ich bin ganz hin und weg! Wie gerne würde ich mir jetzt auch die Wanderschuhe anziehen und ein bisschen laufen, ganz in Ruhe, die Gedanken schweifen lassen, bis sie hinter dem Horizont verschwinden. Ganz liebe Grüße, Peggy

    • Ein sehr schönes Bild zeichnest du da, liebe Peggy: „die Gedanken schweifen lassen, bis sie hinter dem Horizont verschwinden“. Für dieses zwanglose Kommen- und Gehenlassen ist ein längerer Gang unter einem weiten Himmel wirklich die passende Begleitmusik. Mögest du bald Gelegenheit dazu haben!

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