Ich habe schon einige Berge bestiegen. Auch ein paar Viertausender waren dabei. Aber auf dem höchsten Gipfel von Wo-auch-immer hatte ich noch nie gestanden. Dabei liegt einer gleich vor der Haustür. Der Hasselbrack, die höchste natürliche Erhebung Hamburgs, ist nicht gerade ein K2, zugegeben, eher so eine Art H null mit seinen gerade einmal 116 Metern über dem Meeresspiegel. Aber er hat es in sich. Dieser Berg könnte mein Ithaka werden, dachte ich einen flüchtigen Moment lang, als ich zum zweiten Mal die Asphaltstraße entlang fuhr, die sich endlos und schnurgerade durch das Wohngebiet im äußersten Südwesten der Stadt zieht.
„…Und immer habe Ithaka vor deinem Geist. / Dort anzukommen ist deine Bestimmung. / Doch sollst du die Reise ja nicht übereilen. / Es ist viel besser, sie dauert viele Jahre, / so dass du nunmehr alt geworden auf der Insel anlegst, / reich an alldem, was du unterwegs gewonnen, / ohne zu hoffen, dass dir Ithaka Reichtümer schenkt…“
Konstantinos P. Kavafis (1863 – 1933), griechischer Dichter
Ich weiß, ich übertreibe maßlos. Aber wer hätte auch ahnen können, dass die größte Schwierigkeit darin bestehen würde, den Berg überhaupt zu finden? Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Gipfelversuch im Grenzgebiet zwischen Hamburg und Niedersachsen, das „vom Höhenzug der Harburger und Schwarzen Berge mit ihren steilen Anstiegen, weiten Ausblicken und tief eingeschnittenen Tälern“ geprägt wird, wie dem Wanderer auf einer Infotafel am Tor zu Hamburgs „Hoch im Süden“ verheißen wird.
Bis zum Moisburger Stein, der letzten verbliebenen Grenzmarkierung aus uralten Zeiten, war ich gut vorangekommen. Zuerst mit der S-Bahn bis zur Station Neugraben, dann mit dem Bus der Linie 240 bis zur Endstation Waldfrieden. Dass ich mich einer Gegend näherte, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, hatte sich beim Lesen der Straßennamen zur Linken und Rechten der endlosen Asphalttrasse bereits angekündigt: neben Heidrand, Waldschlucht und Quellgrund freute ich mich über den Kiepenkerlsweg – und ganz besonders über Lüttmattensteed, eine Reminiszenz an den kleinen Hasen Martin (Lütt Matten), der so gerne tanzte, dass er sogar Reineke Fuchs (Reinke Voss) die Hand reichte. Ein tödlicher Fehler, wie man in dem plattdeutschen Gedicht „Matten Has“ des Dithmarscher Lyrikers und Schriftstellers Klaus Groth nachlesen kann.
Am „Waldfrieden“ warf ich noch rasch einen Blick auf die Infotafel, auf der neben den Zeilen über die wilde Bergwelt auch eine Karte vom Regionalpark Rosengarten prangt. Dann lief ich hinein in den Wald, ignorierte Wegweiser nach links Richtung Kiekeberg-Museum und Wildpark Schwarze Berge und erreichte keinen Kilometer, nachdem ich aus dem Bus gestiegen war, den Moisburger Stein.
Seit 1750 markiert er die Grenze zwischen Harburg (Hamburg) und Moisburg (Niedersachsen). Davon erzählen die in den Stein gemeißelten römischen Ziffern und die Initialen von König Georg II., damals König von Großbritannien und Irland und Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg. Und das Symbol der Wolfsangel natürlich. In Stein gehauen kennzeichnete es bereits Anfang des 17. Jahrhunderts die Grenze zwischen Braunschweig-Lüneburg und Hessen. Später wurden Wolfsangeln auch direkt mit dem Reißhaken in die Rinde von Bäumen gerissen, um Forstreviere abzustecken.
Der Moisburger Stein ist der letzte von fast 900 Grenzsteinen, die einst den königlichen Forst vom Bauernwald trennten. Schade. Die Steine wären ein schöner Wegweiser zum Gipfel gewesen, der – wie ich gelesen hatte – nur wenige Meter neben der Grenze liegt. Wegweiser gibt es in der Gegend viele: zum Kiekeberg und zum Moisburger Stein, zur Schulenburgseiche und zur Großmoddereiche, nur nicht zum Hasselbrack. Natürlich könnte man GPS benutzen, aber ohne kam ich mir irgendwie zünftiger vor. Keine Sorge, ich bemühe jetzt nicht den Vergleich zur Bezwingung eines Achttausenders ohne zusätzlichen Sauerstoff…
Der vage Grenzverlauf in meinem Kopf führte nicht nur nach Süden, sondern auch ein Stück nach Westen. Das hieß, ich musste irgendwo rechts abbiegen. Aber wo genau? Um es kurz zu machen: Ich probierte jeden Abzweig, jeden Pfad nach rechts, ich stieg auf jede Anhöhe. Die auf der Infotafel angeführten „weiten Ausblicke“ suchte ich vergeblich. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass das Überschreiten der Baumgrenze seine Vorteile hat. Mount Hasselbrack kümmerte das wenig, er hielt sich bedeckt.
Man hätte darauf kommen können, bei dem Namen. „Brack“ ist die plattdeutsche Bezeichnung für eine tiefe Kuhle, die durch einen Deichbruch infolge einer Sturmflut entstanden ist, also nichts anderes als ein See oder Teich. Und „Hassel“ leitet sich von Haselstrauch ab. Wieviel Größe und Majestät ist von einem Berg zu erwarten, der „Haselstrauch an der Wasserkuhle“ heißt?
Als ich in einen besonders modderigen Waldweg einbog, an dessen sichtbarem Ende es sanft bergauf ging, wähnte ich mich schon fast am Ziel. Aber wieder Fehlanzeige. Ich fragte walkende Menschen, die irgendwie einheimisch aussahen, ob sie sich in der Gegend auskennen. Ein bisschen, erwiderten sie mit hanseatischem Understatement. Vor allem die Männer freuten sich sichtbar, einer verirrten Spaziergängerin weiterhelfen zu können. Aber auch sie mussten passen, vom Hasselbrack hatten sie nie gehört, zückten hilfsbereit das Handy… kein Empfang. Das war mir auch schon so gegangen. Es folgten aufmunternde Worte und die Ermahnung, doch unbedingt auf den Weg zu achten: Man könne sich hier leicht verlaufen… Ach was!
Zum Glück hatte ich Wasser und Müsliriegel dabei. Nach ein paar Stunden fröhlichen Herumstreifens und der Bekanntschaft mit Dutzenden wunderschöner Hohlwege sank die Sonne merklich und ich beschloss, die Expedition an einem anderen Tag fortzusetzen. Wie viele Bergsteiger sind schließlich wieder und wieder ins Basislager des Mount Everest zurückgekehrt?
Ich kehrte zum Moisburger Stein zurück, meinem Basislager am Mount Hasselbrack. Auf der Infotafel hatte ich noch einmal den Grenzverlauf im Kopf mit dem auf der Karte verglichen – und probierte es zur Abwechslung mit Linksabbiegen. Was ich beibehielt, war die Strategie von der rechten Seite, dem einmal eingeschlagenen Weg eine Weile zu folgen. „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.” Samuel Beckett hätte mich verstanden, glaube ich.
Der neue Weg ließ sich gut an: Matsch und Baumwurzeln stellten die Trittsicherheit sofort auf die Probe, während eine lange sanfte Steigung dem Körper Gelegenheit bot, sich allmählich an die Höhe zu gewöhnen. Dazu der Gesang der Vögel und der würzig-schwere Geruch von Mischwald nach ausgiebigem Regen. Nun schon gut akklimatisiert, fielen auch einzelne Steilpassagen nicht schwer. Steil, naja… so steil eben, wie das in einer Gegend möglich ist, in der die Todeszone bei hundert Metern über Normalnull beginnt.
Was soll ich sagen: Der Weg ließ sich nicht nur gut an, er hielt auch, was er versprochen hatte. Vielleicht eine halbe Stunde nach Verlassen des Basislagers erblickte ich auf einer Anhöhe ein richtiges Gipfelkreuz, wie man es aus der alpinen Bergwelt kennt. Und gleich daneben einen Findling, der auf Hamburgs höchsten Punkt verweist. In den weichen Waldboden daneben ist eine Kiste aus Blech eingelassen, in der sich neben allerlei Andenken und Devotionalien auch ein ordentliches Gipfelbuch befindet.
Auf der anderen Seite des Ensembles schmiegt sich eine alte Buche an den Hang (sie ist auf dem Bild ganz oben zu sehen) und entzieht sich so dem Sog der Tiefe. Aus der waren gerade zwei Mountainbiker in die Höhe gestrampelt. „Hard Rock Cafe“ las ich auf dem Shirt des einen, „High Performance“ auf dem des anderen. Ausdenken kann man sich so etwas nicht.