Aneignung der Welt

Hanns-Josef Ortheil: Die Moselreise. Roman eines Kindes. München 2012 (TB)

34502097nClaudia hat beim Surfen auf dem Grauen Sofa festgestellt, dass in der vergangenen Woche offenbar viele Blogger den Impuls verspürt haben, (literarisch) auf Reisen zu gehen. Ich nutze die Gunst der Stunde, um noch eine kleine Perle hinterher zu rollen, die mir vor kurzem in die Hände fiel: Die Moselreise von Hanns-Josef Ortheil.

Wenn ich nur eine Textpassage zitieren dürfte, um einen Eindruck von dem Buch zu vermitteln, dann wäre es vielleicht diese:
„Ein Privatquartier ist eine richtige Wohnung, in der eine Familie wohnt. Im Zimmer des Privatquartiers hört man die Familie wohnen, direkt nebenan. Will man im Privatquartier auf die Toilette, muss man durch den Flur der Wohnung. Dann spricht die Familie, die in der Wohnung wohnt, einen an und sagt einem, wo die Toilette ist. Kommt man von der Toilette zurück, spricht einen die Familie wieder an. Das ist anstrengend.“

Man merkt, da beschreibt ein Kind eine ihm noch ziemlich fremde Welt. Dieses Kind beobachtet sehr genau und es bringt minutiös zu Papier, was es beobachtet. Das ist bisweilen irritierend, manchmal unfreiwillig komisch – und sehr anrührend. Ganz besonders, wenn man sich die Hintergründe dieses Romans eines Kindes vergegenwärtigt. Die Moselreise ist ein Reisetagebuch, es ist die Erzählung einer fast zweiwöchigen Wanderung, die der damals elfjährige Hanns-Josef Ortheil im Sommer 1963 zusammen mit seinem Vater unternommen hat. Ortheil war es damals schon ein paar Jahre gewohnt, täglich zu notieren, was er sah und hörte. Darüber, wie dieses „manische Schreiben“ entstanden ist, ja, wie das Kind seit seinem siebten Lebensjahr buchstäblich um sein Leben schrieb, davon erzählt Ortheil in seinem 2009 erschienenen autobiografischen Roman Die Erfindung des Lebens. Ein Meisterwerk, wie ich finde, aber eben auch ein ausgewachsener Ortheil, was unter anderem bedeutet: 400 Seiten dicker als die Moselreise des Elfjährigen, die, ergänzt um Essays des Autors zu Entstehung und Weiterwirken, erstmals 2010 veröffentlicht wurde.

In beiden Büchern geht es um Ortheils Aneignung der Welt durch die erst spät gefundene Sprache und um die wichtige Rolle, die der Vater bei dieser Selbstbefreiung gespielt hat. Ein Vater, wie man ihn sich klüger und einfühlsamer kaum wünschen könnte. Durch die allmähliche Annäherung an die Welt, in der der Vater zu Hause ist, verliert die Fremde auch für den Jungen Stück für Stück ihre Bedrohlichkeit. Ich kann darüber nur Vermutungen anstellen, aber den Gang zur Toilette in einem Privatquartier wird er am Ende der Moselreise kaum noch anstrengend gefunden haben. Denn dank des Vaters hatte er inzwischen auch gelernt, mit fremden Menschen ins Gespräch zu kommen.