Wir nennen es Heimat

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Vor ein paar Tagen las ich in der Zeitung, dass Hamburgs schrägste Kneipe weiterhin ums Überleben kämpft. Orkantief Xaver und die Sturmfluten in seinem Gefolge hatten die ehemalige Kaffeeklappe unter der Oberhafenbrücke Anfang Dezember bis zu den Fenstern im Erdgeschoss unter Wasser gesetzt und das Mauerwerk stark beschädigt. Das Gebäude wurde zwar inzwischen entkernt, aber die Überprüfung der Standfestigkeit steht noch aus. Das alles geschieht nicht zum ersten Mal. Und das macht beim Daumendrücken für die baldige Wiedereröffnung dieses ganz speziellen Orts in der heutigen HafenCity auch irgendwie Hoffnung. Wie heißt es so schön: Totgesagte leben länger.

P1040871Die Oberhafen-Kantine wurde 1925 als sogenannte Kaffeeklappe gebaut. So bezeichnete man seit Mitte des 19. Jahrhunderts einfache Speiselokale, in denen keine alkoholischen Getränke ausgeschenkt wurden. Um den seinerzeit offenbar übermäßigen Schnapskonsum unter der arbeitenden Bevölkerung zu bekämpfen, wurde neben deftiger Hausmannskost vor allem Kaffee von der Küche durch eine Klappe direkt in den Gastraum gereicht, daher der Name. Im Hamburger Hafen gab es mal zwanzig solcher Lokale. Inzwischen ist nur noch die Oberhafen-Kantine übrig, ein Häuschen im schönsten Backsteinexpressionismus mit einer Grundfläche von nicht einmal 25 Quadratmetern und einem turmartigen Staffelgeschoss, das ursprünglich als Lagerraum diente. Unmittelbar darüber rauschen Regional- und Fernbahnen von und nach dem nahen Hauptbahnhof.

P1040888Da das Gebäude direkt an der Kaikante des Oberhafens steht, wurde es von Gezeiten und Sturmfluten unterspült, sackte ab und wurde mit der Zeit immer schiefer. So scheef, as den Schipper sin Been, wie es in dem Song vom Hamburger Veermaster heißt. Da fällt man im Wortsinn mit der Tür ins Haus. Oder war es umgekehrt: nach dem Besuch hinaus auf die Straße? Suppe und Getränke haben jedenfalls ordentlich Schlagseite in den Tellern und Gläsern der Oberhafen-Kantine. Irgendjemand hat einmal einen Neigungswinkel von 8,7 Grad gemessen. Sensibleren Gästen kreiselt es vor allem auf dem Oberdeck schon mal in Kopf und Magen, auch ohne das winzigste Promillchen Alkohol im Blut. Der gehört natürlich längst zum Repertoire des traditionsreichen Ausschanks.

P1040884Ach, könnten die alten Mauern erzählen, was sie im Laufe der Jahre alles gesehen haben… Als Erstes würden sie sicher von Anita Haendel sprechen. Anita war die Tochter von Hermann Sparr, der die Oberhafen-Kantine 1925 bauen ließ. Er nahm die damals 12-Jährige von der Schule, damit sie in der Küche half. Daraus wurden 72 Jahre, in denen der Betrieb nicht ein einziges Mal unterbrochen war. Bis zum Schluss stand Anita selbst in der Küche. In einer Reportage in der Hamburger Morgenpost offenbarte die Seele der Oberhafen-Kantine 1996 ihr Selbstverständnis: „Seit 70 Jahren wissen die Ladearbeiter, dass es hier morgens um fünf frischen Kaffee gibt und Frikadellen und auch ein’n Lütten fürs Ende der Nachtschicht. Und was 70 Jahre läuft, muss auch das 71. hinhauen.“ 1997, einen Tag vor ihrem 84. Geburtstag, starb Anita Haendel. Das ist geradezu biblisch: Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.

Nach Anita Haendels Tod stand die Kantine leer, musste schon bald wegen Einsturzgefahr geschlossen werden. Jahre später wurde das Haus renoviert und an den Fernseh-Koch Tim Mälzer und seine Mutter Christa verpachtet, die den Imbiss 2006 mit traditioneller Hausmannskost wieder eröffnete. Nachdem eine Sturmflut das Gebäude nur eineinhalb Jahre später erneut erheblich beschädigt hatte und es abermals saniert werden musste, beschlossen die Mälzers, das Lokal aufzugeben.

P1040883Vor ein paar Wochen stand der Oberhafen-Kantine das Wasser wieder einmal bis zum Hals, aber die jetzigen Betreiber wollen kämpfen. Das Inventar immerhin konnten sie retten. Und sie haben ein provisorisches Quartier im Kontorhaus am Brandshofer Deich eröffnet, wo sie sich und die alte Kaffeeklappe mit verschiedenen Sonderveranstaltungen über Wasser zu halten versuchen, bis sie – hoffentlich – im Frühjahr an den Oberhafen zurückkehren können.

Ich glaube, das wird klappen. Um den Spruch mit den Totgesagten Mantra-artig noch einmal auf Englisch zu murmeln – immerhin hat die Institution Kaffeeklappe ihren Ursprung in London: There’s life in the old dog yet. Auf der Website der Oberhafen-Kantine lese ich denselben Gedanken in ein paar mehr Worten: „Das Häuschen blieb stehen und steht da immer noch: schief, aber aufrecht. Das ist ein bisschen überraschend. Von mehr als 20 Kaffeeklappen, die es einst im Hamburger Hafen gab, ist es die letzte. Schwein gehabt. Offenbar stand diese keinem Wirtschaftspolitiker oder Investor im Weg, die sich mit einem Häuschen, in dem seit 1925 Kaffee und Frikadellen serviert werden, erfahrungsgemäß nicht lange aufhalten. Und so werden hier immer noch Kaffee und Frikadellen serviert. Das ist eigentlich keine große Sache und trotzdem irgendwie tröstlich. Ein schönes Gefühl. Wir nennen es: Heimat.“

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