Gestern Nachmittag in einer Hamburger Buchhandlung meines Vertrauens. Den Plan, nur schnell Geschenke für die Geburtstags-Nichten einzukaufen, hatte ich längst ad acta gelegt. Bis ich die Kinderbuchecke ganz hinten im Laden auch nur erreichte, hatte mir schon ein halbes Dutzend Titel für Erwachsene mal fordernd, mal schmeichelnd, aber immer verheißungsvoll „Nimm mich mit!“ zugerufen. Inzwischen saß ich mit meinem vielstimmigen Chor, zu dem sich Dank der Buchhändlerin auch noch eine reiche Auswahl an unbedingt empfehlenswerter Kinder- und Jugendliteratur gesellt hatte, in der Leseecke des Geschäfts und schmökerte vor mich hin.
„Es war ein trüber Samstag im Frühjahr, als diese unglaubliche Geschichte so harmlos anfing“, las ich gerade, als eine ältere Dame im Sessel neben mir Platz nahm. „Der Morgen hätte auch zu einem verirrten Novembertag gehören können. Der graue Himmel konnte die schweren Wolken kaum noch tragen. Sie hingen so tief, dass sie schon fast die Häuser berührten. Alles war grau: Erde und Himmel. Sogar Ninas Vater und Mutter sahen auf einmal irgendwie grau aus…“ Ich schaute auf – und musste lachen. Meine Leseecken-Nachbarin blätterte doch tatsächlich auch in Rafik Schamis Herz der Puppe. „Für meine Enkelin“, sagte sie. „Für meine Nichte“, erwiderte ich.
Bei der Dame war es übrigens genau umgekehrt: Sie hatte gerade Ein Regenschirm für diesen Tag (brauchen wir zumindest hier im Norden heute nicht) von Wilhelm Genazino ausgelesen – das Buch könne sie mir sehr empfehlen, erklärte sie – und war in die Buchhandlung gekommen, um sich einen neuen Genazino zu holen, als der Schami „Nimm mich mit!“ rief. Das mache sie eigentlich immer so, sagte sie. Ja, ein kleines Geschenk für die Enkelin einkaufen, das auch, aber vor allem: gleich noch weitere Bücher von einem Autor lesen, der ihr gefallen hat. Einmal habe sie drei Jahre lang nur Thomas Bernhard gelesen, Österreicher wie sie, 70 Bücher insgesamt. Der Bernhard sei ihr so nahe gegangen, da sei einfach kein Raum für andere Autoren gewesen.
Wie wir von Thomas Bernhard und Österreich auf Kästner, Ringelnatz und Rilke kamen, erinnere ich nicht mehr. Aber es erstaunte mich nicht im Mindesten, als die alte Dame plötzlich ein Gedicht nach dem anderen rezitierte. Ach, ich hätte ihr ewig zuhören können…! „Und Mascha Kaléko, nicht zu vergessen“, sagte sie plötzlich. Das glaube ich jetzt nicht! dachte ich. Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich nicht mehr an Mascha Kaléko gedacht hatte. Bis ich vorgestern auf dem Literatur-Blog Sätze & Schätze, das mir schon manchen Leseschatz geschenkt hat, auf ihr wunderbares Gedicht Sozusagen grundlos glücklich stieß. Und nur einen Tag später legt mir eine österreichische Hamburgerin Kalékos nicht minder großartiges Interview mit mir selbst (ich empfehle die Audio-Datei) ans Herz… Lesen verbindet, soviel ist sicher.