Quirlender Stillstand

Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling. Roman. Berlin 2014

42421Wenn ein Buch einem viel zu sagen hat, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass es einem leicht fallen müsste, über das Buch zu schreiben. „Panischer Frühling“ von Gertrud Leutenegger ist für mich so ein Buch. Die Bekanntschaft (und ein Leseexemplar) verdanke ich Claudia vom Grauen Sofa im Rahmen des Bloggerprojekts LongListLesen 2014. Inzwischen steht der Roman auf der Shortlist für den diesjährigen Buchpreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Darüber freue ich mich.

Die äußeren Ereignisse sind rasch erzählt: Eine Frau (die Ich-Erzählerin) streift durch London. Durch Parks und das Vielvölkergemisch im East End, wo sie wohnt. Und immer wieder zur Themse, deren bald träges, bald eiliges Fließen sie magisch anzieht: „Nie hat ein Fluss mich mehr verwirrt als die Themse. Wenn die Gezeiten wechselten, entstand ein quirlender Stillstand.“ Die Frau ist alt genug für eine erwachsene Tochter, irgendwo in den Regenwäldern des Amazonas. „Allem fern sein, um allem nah zu sein“: Das ist die Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hat. Eine Art Auszeit also.

Es ist Frühling. Jener Frühling, in dem der isländische Vulkan mit dem unaussprechlichen Namen den Flugverkehr über Europa lahmlegte. Die Erzählerin treibt durch die Stadt und nimmt wahr. All ihre Antennen sind auf Empfang gestellt. Sie läuft und assoziiert, läuft und erinnert sich. Die Grenzen von Zeit und Raum verschwimmen, auch in dem Kopf der Frau herrscht „quirlender Stillstand“. Alles ist zugleich da: Die Aschewolke auf dem Bildschirm des kleinen Fernsehers auf dem Mikrowellenherd in dem pakistanischen Lokal und der strahlendblaue Londoner Himmel darüber. Die Aschewolke des Vulkans und die geweihte Asche, die der Frau aufs Haar gestreut wurde, als sie noch ein Kind war, in jenen längst vergangenen Sommern auf dem Pfarrhof des Onkels in der Schweiz. Die Massen an prallen Jackfruits, die sich Tag für Tag auf der Auslage des Ladens im East End türmen, während im Gewächshaus in den königlichen Kew Gardens im Westen „eine einzige kümmerliche Jackfruit, grün und mager, gelehrt beschriftet, mit Schnüren und Bambusstecken gestützt“ wird. Die Schönheit dieser flugverkehrsfreien Tage und die Bilder des Terroranschlags auf die Londoner U-Bahn ein paar Jahre zuvor … Und die zwei Gesichtshälften des Zeitungsverkäufers, dem die Erzählerin bei einem ihrer Streifzüge auf der London Bridge begegnet: „wie auf einem Renaissancebildnis“ die eine, von einem schrecklichen Feuermal entstellt die andere.

Die beiden kommen miteinander ins Gespräch. „Und der junge Mann begann von seinen Sommern in Penzance zu erzählen, als würden wir die ganze Nacht auf dieser Brücke sitzen bleiben, ich auf seinem Zeitungspacken, sein Freund aus Jamaica leise trommelnd neben uns.“ Die Sommer bei der Großmutter, die den Jungen mit dem mißgestalteten Gesicht davor schützen wollte, womöglich in einer finsteren Nacht von den Klippen gestoßen zu werden. „Nicht wahr, sagte er, ich rede so viel, viel zuviel! Meine Großmutter sagte oft, das hätte ich von ihr, das wäre den Iren und den Menschen an den Küsten Cornwalls gemeinsam, dass sie ununterbrochen schweigen oder ununterbrochen erzählen würden, aber Schweigen und Erzählen sei ein und dasselbe, nichts anderes als das Rauschen des Meers.“ Da ist es wieder, dieses Sowohl-als-auch, dieses Zugleich, das das Buch durchströmt wie ein langer Fluss.

Erzählen schafft Nähe, auch zu den Abwesenden. Und wenn es gut läuft, wird auch der Zuhörer dabei seiner selbst und der eigenen Geschichte inne. Für die Frau läuft es gut. „Und um das großmütterliche Haus des jungen Mannes, verborgen hinter einem Lorbeerbaum nahe am Meer in Penzance, das er erst als eine flüchtige Zeichnung in die Nacht hinein entworfen hatte, nicht zu verlieren, fügte ich im morgendlichen Wachschlaf mein eigenes längst entschwundenes Sommerhaus mit seinem Waldzimmer, dem roten Saal, dem blauen Kabinett hinzu, und so daraus eines der englischen Doppelhäuser bildend, mutete ich diesem zu, sich wie ein Lichtkeil in die unnachgiebig verrinnende Zeit hineinzutreiben.“ „Und alle Zeit ward Gegenwart“, wie es in einem Gedicht von Hermann Hesse heißt. Jedenfalls für den Augenblick.

Nachdem der junge Mann der Frau das dunkelste Kapitel seines Lebens erzählt hat, taucht er plötzlich nicht mehr auf der Brücke auf. Dabei wusste die Frau doch schon, was sie ihm als Gegengabe für seine Geschichte erzählen und was sie ihm sagen wollte: „Nichts kann für immer verschwinden! würde ich ihn bestürmen, sagte nicht sie (die Großmutter) ihm einmal, was die Ebbe nimmt, bringt die Flut wieder?“ Die Frau ist verzweifelt. Alles um sie herum erscheint ihr plötzlich unwirklich: „Hatte denn nur die Aussicht, Jonathan zu sehen und ihm davon zu erzählen, allem Leben und Glanz verliehen? Selbst das Sommerhaus entglitt mir wieder ohne ihn.“ An einem der letzten Tage dieses lauen Frühlings erkennt die Frau schließlich, wohin für sie die Reise geht. Da ist der Himmel über London längst wieder voller Flugzeuge.

Äußerlich passiert nicht viel in diesem Roman, aber innen drin, da arbeiten Vulkane. Das muss man mögen, um das Buch zu mögen. Ich mag es. Vielleicht, weil mir diese Art des assoziierenden Herumstreifens selbst sehr vertraut ist, bei dem sich Momentaufnahmen der Umgebung mit Bildern, Geräuschen und Gerüchen von anderen Orten verbinden, mit Erinnerungen an andere Menschen und an vergangene Zeiten, mit dem Wissen auch um die Geschichte eines Ortes. Nach der Lektüre verspüre ich große Lust, mich mit den Skizzen von Gudrun Leutenegger im Kopf sofort auf den Weg nach London und ins kornische Penzance zu machen. Und ich freue mich schon darauf, zukünftig mit noch mehr Aufmerksamkeit herumzustreifen, wo auch immer.

Ich glaube übrigens nicht, dass es darauf ankommt, der Erzählerin (Autorin) zu allen Bildern und durch all ihre Assoziationen zu folgen. Nicht jeder ihrer Vergleiche überzeugt mich: „Dass uns ein Fremder in sein Inneres einlässt, ist erregend, von solcher Wärme und ebenso unbegreiflich, wie von ihm umgebracht zu werden.“ Also, ich weiß nicht… Und dass nicht nur unter dem Kirchturmdach auf dem Pfarrhof des Onkels Schleiereulen wohnten, sondern eine auch auf das Kissen gestickt war, an das sich der junge Mann „in der kalten Kirche lehnte, die mitten in einem dieser Friedhöfe über dem Meer steht, welche meine Großmutter oft mit mir aufsuchte,“ das ist mir, ehrlich gesagt, ein bisschen viel. Aber es ist auch nichts daran gelegen. Der besondere Reiz dieses Romans liegt für mich am Ende darin, dass er Erinnerungen und Assoziationen weckt. An eigene Streifzüge. An Orte der eigenen Kindheit. An Momente, in denen die Zeit still zu stehen schien beim Erzählen. Und an andere, in denen es schien, als sei wirkliche Nähe überhaupt nur in der Distanz möglich. Und die Sprache: Ahhhh…!

Weitere Besprechungen zu dem Roman im Rahmen des LongListLesens 2014 gibt es bei Claudia auf dem Grauen Sofa und bei Annas Buchpost.