„Gut Weg will Pfeile haben!“ Wie dankbar bin ich dem „undogmatischen Pilgerforum“, das seine Botschaft auf einen Laternenpfahl geklebt hat. Schon der konkreten Orientierungshilfe wegen. Spaziere ich doch, noch dazu bei ergiebigem Dauerregen, quasi durch Niemandsland: ein menschenleeres Gewerbegebiet irgendwo hinter Vila do Conde auf dem Weg vom Caminho da Costa zum traditionellen Caminho Português weiter drinnen im Land. Dieses Hin- und Herswitchen zwischen verschiedenen Wegen mag man vor Ort offenbar nicht. Entweder… oder. Wer dennoch wechselt, muss das ohne gelbe Pfeile tun, die den Jakobspilger ansonsten in großer Fülle und meist auch großer Deutlichkeit auf seinem Weg nach Santiago de Compostela begleiten.
Dankbar bin ich den Undogmatischen aber auch, weil sie mir eine Überschrift zu meinem eigenen Camino schenkten. „Gut Weg will Pfeile haben!“ Genau. „Pfeile“, die deine Ziele und Zwischenziele markieren, die die Richtung bestimmen, die du einschlägst, die deine Schritte lenken. Wenn du gerade nicht so genau erkennst, wohin dich dein Weg im Leben führt, mag es eine gute Idee sein, eine Weile gelben Pfeilen zu folgen. (Oder blauen, es ist nichts an der Farbe gelegen. Die blauen führen in die entgegengesetzte Richtung, zum Wallfahrtsort Fátima 130 Kilometer nördlich von Lissabon, der für Portugiesen mindestens so bedeutend ist wie das spanische Santiago.)
Noch nach Tagen staune ich, wie wenig man denken kann. Gelben Pfeilen zu folgen, butterblumengelben, ginstergelben, ist gerade genug Aktivität für mein Hirn.
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Spät bin ich an diesem Tag gestartet, nach einem umfangreichen Frühstück mit Eiern, Pflaumen, Brot und Kuchen und diversen Bechern Milchkaffee – Hape Kerkeling hätte seine Freude gehabt. Während ich mit Jorge, dem Betreiber des Guesthouse, plaudere, wird mir bewusst, wie fremd es vielen Menschen hier erscheinen muss, allein Hunderte von Kilometern durch die Gegend zu stapfen, wie das mancher (vor allem ausländische) Pilger tut. Spanier und Portugiesen neigen offenbar weniger zum Alleingang. Jorge weiß sogar von einem Gästepaar zu berichten, das getrennt wanderte. Zuerst, so erzählt er mir, habe er angenommen, der Mann habe seine Frau vergessen, als der das Guesthouse verließ, während sie noch seelenruhig beim Frühstück saß. Aber es stellte sich heraus, dass die Motivationen der beiden einfach zu unterschiedlich waren, um den Camino gemeinsam zu gehen. Die Frau war auf einem eher spirituellen, inneren Weg. Damit hatte der Mann nichts am Hut. Auf die Idee zu pilgern wäre er von allein nie gekommen, das Wandern an sich mochte er. Also gingen die beiden tagsüber getrennte Wege, zum Abendessen trafen sie sich wieder. Jorge schüttelt den Kopf. Das, sagt er, wäre wohl nichts für ihn.
Allein. Zu zweit. In Gruppen. Heute so, morgen vielleicht ganz anders. Oder auch genauso wie am Vortag. Die Boy Group aus Cuenca, das Girls Team aus Puerto Rico, die ihre Zusammengehörigkeit für jeden erkennbar durch Gruppen-Shirts manifestieren – die Herren in Rot mit Jakobsmuschel, die Damen in Blau mit Pfeil -, gehören ganz sicher dazu. Manche werden auf dem Weg zu Familien auf Zeit. Meine gute Bekannte Barbara ist so eine. Sie liebt es, allein loszugehen, aber wohl noch mehr liebt sie es, unterwegs eine „Camino Family“ zu gründen, die fortan den Weg oder größere Teile davon gemeinsam zurücklegt.
Das Beste am Camino sind die Menschen, sagen viele. Sie sind auf jeden Fall wesentlicher Teil dessen, was einen Pilgerweg ausmacht, was ihn von – sagen wir – einem beliebigen Fernwanderweg unterscheidet. Der Unterschied hat, so vermute ich, mit den vielen persönlichen Gründen zu tun, aus denen sich Menschen bis heute auf einen Pilgerweg begeben. Das muss ja weder Buße noch die Erfüllung eines Gelübtes sein. Es ist nach meiner Erfahrung noch nicht einmal erforderlich, über die Gründe zu sprechen – die eigenen, die des Gegenüber –, sie bilden auch unausgesprochen ein Fundament, das es erlaubt, einander direkter und „ungeschützter“ zu begegnen als an manch anderem Ort, unter anderen Umständen. Dass dieses Fundament auch Menschen am Wegesrand trägt, merkst du vielleicht, wenn du plötzlich das Gefühl hast, du läufst nun auch für den Unbekannten am Ortsausgang mit, der dich gerade spontan bei den Schultern gepackt und dir einen Kuss auf die Stirn gedrückt hat.
Wie ich selbst zu „Camino Families“ stehe? Ambivalent, würde ich sagen. So sehr ich die Begegnung liebe, sie aktiv suche, so gern ich mich von anderen „finden“ lasse, so sehr schätze ich es auch immer wieder, allein unterwegs zu sein. Still zu werden. Nichts zu denken. Den Pfeilen zu folgen…
