„Ich bin ein Mensch, der manchmal aus der Welt fallen möchte, und hier geschieht es.“
Aus: Cees Nooteboom „Im Frühling der Tau. Östliche Reisen“
Sicher und ruhig steuern die Männer, die ihren Lebensunterhalt mit Jagen und Fischen verdienen, wenn sie nicht gerade Reisende wie uns mit dem Motorboot zu einem der abgelegeneren Fjorde transportieren, zwischen flachen Inseln hindurch, die aus nichts als Fels zu bestehen scheinen.
Eisberge bekommen wir heute kaum zu Gesicht, der Ikaasatsivaq-Fjord im Norden der Ammassalik-Insel an der Ostküste Grönlands, an dem wir unser nächstes Camp errichten wollen, ist um diese Jahreszeit eisfrei. Dafür sehen wir die schönsten Bergketten, die meisten gleich doppelt. Wie Scherenschnitte heben sich die schneebedeckten Höhen zu beiden Seiten des schmalen Fjords vom tiefblauen Wasser und dem nicht minder blauen Himmel ab.
Schon nähern wir uns dem Ufer. Auf den ersten Blick ist kaum mehr zu erkennen als Fels und halb gefrorenes Wasser, das sich träge seinen Weg zum Fjord bahnt. Bloß nicht auf die glitschigen Algen treten! Schon gar nicht, wenn man gerade eine von den unhandlichen schweren Proviantboxen über die kaum weniger rutschigen Steine auf festen Grund zu hieven versucht.
Marina, unser Guide, läuft bereits den steinigen Hang hinauf. Irgendwo weiter oben muss Platz für unsere Zelte sein. Und siehe da, es ist: Zwischen den Felsen öffnet sich eine schiefe Ebene mit deutlich weniger Steinen. Gleich nebenan versorgt uns ein reißender Schmelzwasserfluss mit Süßwasser. Der Sand, den er mit sich führt, ist so fein, dass man ihn zwar sieht, aber beim Trinken kaum spürt. Der traumhafte Weitblick über den Fjord lässt die Schlepperei durch das unwegsame Gelände sofort vergessen.
In unserem Rücken erheben sich eine Kuppel und eine Pyramide, an deren markanter Gestalt sich auch die Bootsführer orientiert hatten. Sie sind unsere Ziele für die kommenden Tage.
Die Kuppel ist eine Art Hochplateau, allerdings eines mit vielen Einschnitten, so dass unsere Wanderung ein fortwährendes Auf und Ab ist. Das ist typisch für die Berglandschaft Ostgrönlands, in die die Gletscher tiefe Einschnitte und Täler gefräst haben. Wir verlassen das Plateau schließlich über eine steile Rinne, zur Sicherheit einzeln, damit niemand von losen Steinen und Felsbrocken getroffen wird.
Der Weg zum Sattel der Pyramide führt anderntags vor allem in eine Richtung: aufwärts. Über Schotter und Steine zunächst, steiler dann über Felsbrocken, zwischendurch über wunderbar weiche Hochwiesen voller Moos und Flechten, zuletzt über ein langes steiles Schneefeld, das die Kondition noch einmal ordentlich fordert.
Aber auch für diese Anstrengung bietet die Landschaft reiche Entschädigung. Weit unter uns zu unserer Linken schlängelt sich der Schmelzwasserfluss wie ein schmales silbernes Band. Das Camp ist längst nicht mehr zu sehen. Nach rechts schweift der Blick bis zum Horizont. Der mit Eisbergen und kleinen Meereisfeldern gesprenkelte Sermilikfjord gleich darunter mutet wie ein zweiter Himmel an. Über ihm zeichnet sich zartweiß das Landesinnere ab – das mächtige Inlandeis. Gut und gerne 15 Kilometer mögen es bis dahin sein, aber die Luft ist so klar, dass die Distanz viel kürzer erscheint.
Ich wusste, dass eine Trekking-Reise nach Ostgrönland ein Abenteuer sein würde. Aber ich hatte nur sehr ungefähre Vorstellungen davon, was das bedeutete. In dem Infoheftchen des Reiseveranstalters hatte ich zum Beispiel gelesen, dass in den Sommermonaten vereinzelt Eisbären durch den Distrikt Ammassalik streifen würden, an dessen Fjorden wir unsere Zelte aufschlagen wollten.
„Die einheimischen Jäger sind in dieser Jahreszeit nahezu rund um die Uhr unterwegs, so dass Eisbären in den meisten Fällen frühzeitig gesichtet werden. Für den seltenen Fall, dass sich ein Tier tatsächlich in der Gegend aufhält, halten wir abwechselnd Nachtwachen. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass ein Eisbär sich über einen längeren Zeitraum in einem Gebiet aufhält, verändern wir unsere Trekkingroute kurzfristig, um dem Tier entsprechend Freiraum zu lassen und eine für beide Seiten kritische Begegnung zu vermeiden. Unsere Reiseleiter tragen aus Sicherheitsgründen während des gesamten Trekkings ein Gewehr bei sich und wurden zuvor mit der Nutzung im Ernstfall vertraut gemacht.“
Das hatte ich vor der Reise gelesen – und trotzdem irgendwie angenommen, ich könnte in einem der Camps in der Wildnis notfalls auch mal einen Tag pausieren, sollten die Knie streiken nach tagelangem Auf und vor allem Ab im Geröll. Dass diese Annahme wenig durchdacht war, machte uns Marina gleich bei der ersten Lagebesprechung deutlich. Die sportliche Russin, in Tadschikistan aufgewachsen und schon als Kind auf Expeditionen im Pamirgebirge unterwegs, lebt inzwischen in München. Wenn sie nicht gerade Gruppen durch die Berge dieser Welt führt, klettert sie, mit Vorliebe in vereisten Wasserfällen. Natürlich dürfe niemand allein im Camp zurückbleiben, sagte Marina. Da hätte der Eisbär ja gegebenenfalls leichte Beute.
Vor diesem Hintergrund diente die Tageswanderung auf den Hausberg von Tasiilaq von unserem Basislager am Rande des 2000-Seelen-Orts aus sicher auch dazu herauszufinden, ob wir alle fit genug sind für die vor uns liegenden Tage in der Wildnis. Über Moos und Flechten, über Geröll und Schotter führte der Weg. Vorbei an Gletscherseen und rauschenden Bächen, einmal auch mittendurch. Von Gipfel zu Sattel zu Gipfel.
Staunend und tief berührt schaute ich auf die Eisberge mit ihren türkisfarbenen Röckchen im Meer weit unter uns. Ganz allmählich begann der aufsteigende Nebel die von den Gletschern geformten Täler zu füllen.
P.S. Den „Fitness-Test“ bestanden wir alle. Ich beschloss dennoch, fortan die Kniebandagen anzulegen. An Entlastung mitnehmen, was geht!
Einmal pro Tag fliegt Air Iceland von Reykjavik aus die kurze Landebahn zwischen Felsen, Eis und Wasser an – immer vorausgesetzt, tief hängender Nebel oder andere widrige Wetterverhältnisse verhindern dies nicht. Wir haben Glück und landen bei strahlendem Sonnenschein auf dem winzigen Flughafen von Kulusuk, dem einzigen in Ostgrönland. Sonst gibt es dort nur noch Heliports.
Kurze Zeit später düsen wir bereits in offenen Motorbooten über den Nordatlantik, vorbei an Kirchen und Kathedralen, an Zauberschlössern und verfallenen Burgen in Weiß-Blau-Türkis.
So weich und beinahe cremig wie überdimensionale Baisers treiben die Eisberge im gleißenden Licht. Da muss einer sehr viel Eiweiß und Zucker aufgeschlagen haben, denke ich, als mir der Wind unter die Daunenjacke fährt und mich daran erinnert, dass wir uns nicht in der Backstube des Schlaraffenlandes sondern bei wenigen Grad über Null auf dem Meer befinden.
Unser Ziel ist Tasiilaq im Süden der Ammassalik-Insel am Kong Oscars Havn, einem als besonders still geltenden Fjord. Daher der Name „Tasiilaq“, was „wie ein ruhiger See“ bedeutet. An diesem „See“ 100 Kilometer unterhalb des Polarkreises werden wir unser Basislager errichten.
Nur etwa 2500 bis 3000 Menschen leben insgesamt in Ostgrönland, allein 2000 von ihnen in Tasiilaq. Zu dem Städtchen wiederum gehören fünf Inuit-Dörfer in den umliegenden Fjorden, darunter auch Kulusuk, das die Verbindung zum Rest der Welt hält.
Tasiilaq auf den ersten Blick, das sind: eine ungeteerte Piste, die von der Bootsanlegestelle Richtung Ortszentrum führt, linker Hand Müllkippe und Hubschrauberlandeplatz, rechts der Campground, weiter hinten rote, blaue und grüne Häuser, vereinzelt auch gelbe, die wie eine Sammlung Bauklötze an den felsigen Hängen kleben.
Im Ort gibt es ein Postamt, zwei Supermärkte – den bemerkenswert gut sortierten kleinen am einen und den noch viel besser sortierten großen am anderen Ende –, die alte Kirche, die inzwischen das Museum beherbergt, und die neue Kirche weiter oben, die eher an ein Zelt erinnert, Gemeindeverwaltung, Touristeninformation, Schule, Krankenhaus, Friedhof und Polizei, einen kleinen Hafen natürlich. Was man so braucht. Und – last but not least – das Servicehaus, in dem ganz am Ende eine heiße Dusche auf uns wartet. Aber jetzt warten erstmal eineinhalb Wochen Trekking auf uns…