Einer neben dem anderen

Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit. Bezwingung seiner selbst, Verstandesgemäßheit, Wirksamkeit in seinem Kreise, Bewunderung des Schönen, verbunden mit einem heiteren, gelassenen Sterben, halte ich für groß; mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind wie Stürme, feuerspeiende Berge, Erdbeben.

Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird. Es gibt Kräfte, die nach dem Bestehen des einzelnen zielen. Sie nehmen alles und verwenden es, was zum Bestehen und zum Entwickeln desselben notwendig ist. Sie sichern den Bestand des einen und dadurch den aller. Wenn aber jemand jedes Ding unbedingt an sich reißt, was sein Wesen braucht, wenn er die Bedingungen des Daseins eines anderen zerstört, so ergrimmt etwas Höheres in uns, wir helfen dem Schwachen und Unterdrückten, wir stellen den Stand wieder her, daß ein Mensch neben dem anderen bestehe und seine menschliche Bahn gehen könne, und wenn wir das getan haben, so fühlen wir uns befriedigt, wir fühlen uns noch viel höher und inniger, als wir uns als einzelne fühlen, wir fühlen uns als ganze Menschheit. Es gibt daher Kräfte, die nach dem Bestehen der gesamten Menschheit hinwirken, die durch die Einzelkräfte nicht beschränkt werden dürfen, ja im Gegenteil beschränkend auf sie selber einwirken. Es ist das Gesetz dieser Kräfte, das Gesetz der Gerechtigkeit, das Gesetz der Sitte, das Gesetz, das will, daß jeder geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem anderen bestehe, daß er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle anderen Menschen sein soll.

Adalbert Stifter (1805 – 1868): Das sanfte Gesetz

Die Bilder dieses Beitrags sind an einem der Seen im Norden von Hamburg entstanden. Der Baum, der, halb noch im Wald, seine Äste über das Wasser streckt, diente mir als Kulisse für ein Fotoshooting. Ein inspirierender Ort. Einer, an dem „die Liebe zum Leben und allem Lebendigen“ (Erich Fromm) gedeiht und man an „sanfte Gesetze“ glauben möchte.

12 Kommentare zu “Einer neben dem anderen

  1. An sowas, was du da beschreibst, dachte ich erst gestern. Natürlich hätte ich es nicht in so schöne und passende Worte fassen können.

  2. Liebe Maren, ein wunderbares Geschenk von Dir. Ich werde mir „das sanfte Gesetz“ kopieren und an die Wand hängen (und ins Herz prägen). Was für eindrucksvolle Worte. Und dazu Deine sanft sich in die umgebende Natur schmiegenden Bäume…

  3. Liebe Maren, hab Dank, nun schwingt es in mir nach: auf dass wir Menschen einander Kleinode sind und auf dass den Menschen die Pflanzen, Tiere und Steine Kleinode sind, möchte ich hinzufügen.
    Sonnige Mittwochmorgengrüße
    Ulli

  4. Schöne Gedanken und eine erhebende Gesellschaftsvision. Gerade in Zeiten in denen die Egomanen und Fanatiker jeder Art an die Macht gespült werden, ist es wahrscheinlich gut, sich zu erinnern, dass es auch anders gehen könnte. Die Frage, die ich mir dazu stelle, ist immer, wie die Mechanismen entstehen, durch die die ewig Falschen an die Macht kommen …

    • Ich glaube, um das sanfte Gesetz in sich zu befördern, ist es hilfreich, viel in der Natur zu sein, sich frei und im eigenen Rhythmus zu bewegen, die Sinne zu schärfen, wahrzunehmen, was um einen ist.

  5. selig sind die Sanftmütigen, denn ihrer ist das Himmelreich. Ich bin zornmütig auf die Welt gekommen 😉
    Aber das sanfte Gesetz – dem zu helfen, dem geschadet wurde, damit er wieder auf die Füße kommt – das nehme ich schon auch ernst. Und bemühe mich, niemandem zu schaden.

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