Im Niemandsland

P1140338P1140325Na, die machen aber wirklich deutlich, dass sie gern mal einen heben! Verblüfft schaue ich auf das ovale Schild an der Hauswand zu meiner Linken. „Freistaat Flaschenhals“ steht dort in dicken Lettern. Dazwischen zwei aufrechte, aber offenbar schon etwas angeschickerte Löwen mit einem Römer in der Pranke, aus dem in hohem Bogen der Rebsaft spritzt. Freundin Anne weiß es besser. Kostverächter lebten hier im Rheingau sicher nicht, stimmt sie mir zu, aber mit dem Freistaat habe es doch eine ganz andere sehr spezielle Bewandtnis. Und während wir im weichen Aprilregen hügelauf und hügelab die Rheinsteig-Etappe von Kaub nach St. Goarshausen laufen, erzählt sie mir die Geschichte, die man für einen Aprilscherz halten möchte, wäre es nicht beinah schon Mai.

P1140329Begonnen hatte es im November 1918 mit dem Waffenstillstandsabkommen von Compiègne, das die Kampfhandlungen im Ersten Weltkrieg beendete. Das Abkommen regelte den vollständigen Abzug aller deutschen Truppen aus den besetzten Gebieten in Belgien, Luxemburg und Frankreich sowie aus Elsass-Lothringen. Außerdem sah es vor, dass die Westmächte das linke Rheinufer und zusätzlich drei rechts des Rheins gelegene Brückenköpfe kontrollierten um zu verhindern, dass das Deutsche Reich die vorhandenen Bodenschätze und Industrieanlagen für eine Wiederaufrüstung nutzte. Bei der Planung der Besatzungszonen zogen die Kartografen um die Städte Köln, Koblenz und Mainz Halbkreise mit einem Radius von jeweils 30 Kilometern in der Annahme, dass diese einander berühren bzw. überlappen würden. Tatsächlich blieb aufgrund eines Rechenfehlers ein Landstreifen vom Rheintal bis hinauf nach Limburg an der Lahn übrig, der zu keinem der Besatzungsgebiete gehörte, aber auch vom Deutschen Reich komplett abgeschnitten war. Geformt war dieses Niemandsland mit etwas Phantasie wie ein Flaschenhals. An der schmalsten Stelle war es nicht einmal einen Kilometer breit, aber von 17.000 Menschen bewohnt, die ohne weiteres bei Asterix und seinen Galliern hätten mitmischen können. Ich zitiere aus einem Beitrag des WDR vom 10. Januar 2009:

karte„Plötzlich vom restlichen Deutschland abgeschnitten und quasi neutral, nutzen die Bürger der Städtchen Kaub und Lorch die kuriose Lage auf ihre Weise. Unter Führung ihres patriotisch gesinnten Bürgermeisters Pnischeck rufen sie am 10. Januar 1919 den ‚Freistaat Flaschenhals‘ aus. ‚Wir wünschen, dass zwischen Bonn und Mainz wenigstens noch ein Streifen wirklichen deutschen Rheines verbleiben soll, frei von jedem welschen Einfluss‘, telegrafiert Pnischeck selbstbewusst an die deutsche Waffenstillstandskommission. Wie ein kleiner König stampft der umtriebige Bürgermeister eine Verwaltungsstruktur für seinen Freistaat aus dem Boden und lässt sogar eigene Geldscheine drucken – mit spöttischen Sprüchen gegen den verhassten ‚Franzmann‘. Seine ‚Untertanen‘, von denen fast jeder einen eigenen Weinberg und meist noch eine Brennerei besitzt, nutzen ihren rechtsfreien Status gehörig aus und beginnen einen regen Schmuggelhandel.

Nachts treiben Bauern ihr Vieh aus den besetzten Gebieten in den Freistaat und werden mit Wein und Schnaps entlohnt. Von den in Lorch vor Anker liegenden Frachtkähnen verschwinden zentnerweise Mehl, Getreide oder Salz und finden auf Knüppelpfaden bei Nacht und Nebel ihren Weg ins Besatzerland. Um die Freistaatler zu schikanieren, stellen die düpierten Franzosen auf ihrer Rheinseite Suchscheinwerfer auf und leuchten in der Nacht das Flussufer ab. Schmuggler entdecken sie dabei selten, dafür aber immer wieder Lorcher Jugendliche, die ihnen mit heruntergelassenen Hosen das Hinterteil entgegenstrecken.“

P1140356Ende Februar 1923 war Schluss mit der Freistaat-Herrlichkeit. Weil das Deutsche Reich mit den Reparationsleistungen von Kohle und Holz nicht nachkam, besetzten alliierte Truppen das Ruhrgebiet und die Franzosen den verhassten Flaschenhals. Als sie im November 1924 schließlich wieder abzogen, ging der Freistaat endgültig in der Weimarer Republik auf. 70 Jahre später besannen sich Winzer, Hoteliers und Gastronomen aus Lorch und Kaub auf das Erbe und gründeten die Freistaat Flaschenhals Initiative – ähnlich selbstbewusst wie die Vorfahren mit einer eigenen Regierung, einem Präsidenten und einem Haufen Ministerien. Wer mag, erkauft sich bei der Initiative, deren Website ich die historische Karte der Brückenköpfe Koblenz und Mainz entnommen habe, die doppelte Staatsbürgerschaft und erhält dafür neben einem Reisepass die Möglichkeit, im Rahmen eines mehrgängigen Menüs regionale Weine und Destillate zu verkosten.

P1140381Den passenden Thron für Freistaatler fanden wir später in Frankfurt in der Mainuferanlage. „Du musst dich schon ordentlich hinstellen“, forderte mich Anne auf, als ich auf dem kalten Sockel aus Sandstein Platz nahm. Ordentlich bedeutete: Wie ein richtiges Denkmal. Ein „Ich-Denkmal“. So heißt die Skulptur des Satirikers und Cartoonisten Hans Traxler. Das imposante Stehen habe ich natürlich versucht, musste aber feststellen: Der Generation Selfie fällt eine ordentliche Siegerpose offenbar leichter als mir.

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Zum Weiterlesen:

Stephanie Zibell, Peter Josef Bahles: Der Freistaat Flaschenhals. Historisches und Histörchen aus der Zeit zwischen 1918 und 1923. Frankfurt am Main 2009.

24 Kommentare zu “Im Niemandsland

  1. Eine politisch ähnliche Situation gab es 1945 in der Republik Schwarzenberg. Dort existierte um das Städtchen Schwarzenberg zwischen den amerikanischen und russischen Streitkräften wochenlang eine „neutrale“ unbesetzte Zone.

    • Sehr interessant. Ich habe gerade mal ein bisschen bei Wikipedia nachgelesen und festgestellt, dass die „Freie Republik Schwarzenberg“ sogar Eingang in die Literatur gefunden hat. Am Ende steckt womöglich in jedem von uns ein kleiner Abenteurer, der im Angesicht des Unklaren, Ungeregelten, Schwebenden nicht verzagt sondern Ideen entwickelt und die Ärmel aufkrempelt. 😉

  2. Was man bei Dir nicht alles lernt 🙂 Super. Asterix und Obelix im Flaschenhals … herrlich! Und so ein nettes Foto von Dir! (PS: Und jetzt erklärt es sich mir auch, wo Du die letzten Tage gesteckt hast – im Angesicht der Flasche…)

    • Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, liebe Birgit. Es ist schön, die kleinen Denkwürdigkeiten von unterwegs teilen zu können. Und solltest du mich ein klitzekleines bisschen vermisst haben, freut mich das natürlich sehr. Der guten Ordnung halber möchte ich noch betonen, dass ich zwar ziemlich tief in den Rhein geblickt habe, nicht aber in die Flasche. 😉

      • Na, wenn bei Dir Pause ist, mache ich mir schon Gedanken, wo Du steckst 🙂 Und bin natürlich sehr beruhigt, dass Du nur das natürliche Rheinwasser intensiv betrachtet hast 🙂

  3. ICH hat sich gleich bei Amazon einen ICH-Sockel bestellt – für den Balkon. Ich finde das ja peinlich, aber ICH sagt, ich hätte da kein Vetorecht. Bitteschön. Und ich soll mich bei dir bedanken für die Anregung. Tu ich aber nicht, stattdessen desto lieber für diese Bildungsreise an den Rhein, in dessen unmittelbarer Nähe ich geboren wurde, als ich noch gar kein ICH hatte.

    • Ich meine, den Traxler lachen zu hören. ICH sagt, das könne gar nicht sein. Und Peter-T. Schulz, der Erfinder vom Ollen Hansen, sagt:

      „Mein Name ist Hansen,
      ich bin ein Esel.
      Ich bin ein Vogel
      der die Luft liebt
      und den Baum braucht.
      Ich bin eine Flasche,
      in der ein Geist wohnt.
      Ich bin ein Einzelwesen
      mit einem Straßenbesen.
      Ich bin ein alter Schuh
      und finde keine Ruh.
      Ich bin aus Wasser.
      Wenn ich fließe,
      bin ich zu etwas nütze.
      Bleibe ich stehen,
      werde ich eine Pfütze.“

    • Ja, es war herrlich, Peggy, trotz Regen und Kälte. In der Gegend gibt es sicher noch viel Schönes und Staunenswertes zu entdecken. Wenn ich allein an die vielen Burgen denke… Aber dafür bist ja eher du die Spezialistin, und der Kleine Entdecker natürlich. 🙂 Liebe Grüße!

  4. Pingback: Netzalmanach April/Mai 2016 | notizhefte

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