Sabine Peters: Narrengarten. Roman. Göttingen 2013
„Roman“ steht auf dem Cover. „Perlenkette“ hätte es gut getroffen, dachte ich beim Lesen, aber das ist ja keine literarische Kategorie. 26 Geschichten, aufgereiht wie Perlen an einer Schnur. Im Mittelpunkt jeweils eine Person, mal mehr, mal weniger stark verknüpft mit den Protagonisten der vorangegangenen und der nachfolgenden Episoden. Jede für sich komplett und zugleich mit den anderen verbunden und in dieser Verbindung auch noch facettenreicher als die einzelne Miniatur. Und der Titel? „Narrengarten“. Ja, vielleicht, im Sinne von: der ganz normale Wahnsinn. Obwohl mir das Treiben in dem neuen Buch von Sabine Peters im Grunde gar nicht so närrisch vorkommt. Ich selbst hätte mich jedenfalls mühelos an verschiedenen Stellen in den Reigen aus kleineren und größeren Träumen und Nöten einfädeln können: als Freundin, Kollegin, als Verwandte oder Zufallsbekanntschaft irgendwo auf der Straße… Und das keineswegs nur, weil sich all die Schicksale in Hamburg kreuzen und mir Orte und Mentalität(en) des Geschehens vertraut sind.
Um ein weiteres nicht-literarisches Bild zu bemühen: Das Buch ist auch eine Art Staffellauf durch die Stadt – quer durch alle Stadtteile und Bevölkerungsschichten. Seinen Anfang nimmt der Lauf in den öffentlichen Bücherhallen am Hühnerposten. Gerlinde, die selbst schon ein wenig in die Jahre gekommene Bibliothekarin, erinnert sich an Büchereibesuche in ihrer Kindheit, an „Willi Tu und Otto Schätterhand“, an den „glücklichen Löwen, der lacht, und seine Welt ist farbig, leuchtend rot und gold“ und an die strenge Frau Kaiser. „Das Schmatzen des Stempels, mit dem sie den Büchern den Segen gab, bevor man sie nach Haus mitnehmen durfte.“ Frau Kaiser wird der Leser im Laufe der Kapitel noch ein paar Mal begegnen: aus der Perspektive ihrer Pflegerin, in einem eigenen inneren Monolog („Frau Kaiser, Sie müssen sich etwas mehr Mühe geben. Wenn Sie das Hörgerät nicht regelmäßig tragen, bekommen Sie keine Übung damit. Manchmal wird man gescholten von der Putzfrau und dem Pflegedienst. Als wäre man ein Kind. Die große Zeit als Bibliothekarin und als Schatz. Ich war für viele viel, das wissen vor allem die Toten.“) und ein letztes Mal ganz am Ende des Buchs, als die kasachische Putzfrau der alten Bibliothekarin im feinen Othmarschen das eigene Leben Revue passieren lässt, während ihre Tochter in London studiert und von Shanghai träumt. („Wenn Asien die Zukunft ist, hätten wir in Almaty bleiben können, ein Katzensprung nur bis ins Reich der Mitte, Vogelflug dreihundert Kilometer.“)
Frau Kaiser ist nicht wichtiger als andere in Sabine Peters‘ „Narrengarten“. Ich hätte auch Rupert herausgreifen können, die personifizierte Heimat, zu dem viele der Personen in dem Buch in Beziehung stehen. Oder den ehemaligen Redakteur, der viel zu viel trinkt und das vor seiner Frau geheim zu halten versucht. Den promovierten Historiker, der immer noch von seinem übermächtigen Vater träumt. Oder den obdachlosen Verkäufer des Straßenmagazins, der sich schon mal in den Bücherhallen aufhält, wenn es draußen zu kalt ist. Die „Nur-Hausfrau“ aus der gehobenen Mittelschicht, die in und durch ihre Kinder lebt, während sich ihr Mann, ein erfolgreicher Rechtsanwalt, anderweitig vergnügt. („Eine einzige Nacht mit Dings, ein kurzer Seitensprung mit Bums.“) Oder oder oder. Frau Kaiser ist, wie gesagt, nicht wichtiger als andere. Sie steht hier stellvertretend für Aufbau und Erzählweise: In den jeweils nachfolgenden Geschichten werden zugleich die vorangegangenen vervollständigt. Bereits eingeführte Personen werden aus einem anderen Blickwinkel neu beleuchtet, mal aus dem eigenen, mal aus einer weiteren Außensicht. Selbst- und Fremdwahrnehmung sind ja oft zweierlei, und Menschen verändern sich mit dem jeweiligen Gegenüber. Diese Art zu schauen erinnert – ein letzter Vergleich, großes Indianerehrenwort! – an den Blick durch ein Kaleidoskop. Noch einmal gedreht, ein bisschen stärker oder schwächer geschüttelt… und schon entstehen neue Bilder und Perspektiven. Momentaufnahmen allesamt, es gibt keine Interaktion zwischen den Personen, keine Entwicklung.
Und der Ton? Vielstimmig, nah dran an den Protagonisten, die oft im inneren Monolog zu Wort kommen, komisch, anrührend, lakonisch… So wie diese Passage aus dem Titel-gebenden vorletzten Kapitel: „Ich dachte mal, sagt er, die Klinik kann ein Ort sein, wo wir nicht nur den Menschen mit seinen Defiziten untersuchen und ihn alltagstauglich flicken. Träume der siebziger, achtziger Jahre: offene Kliniken als Orte, wo wir die Krankheit als Teil einer Lebensgeschichte verstehen lernen, wo wir auch die je eigenartige Begabung sehen. Wo wir zu sprechen anfangen. Manchmal verschlägt es mir die Sprache. … Friedo wickelt eine Lakritzschnecke auf. Auch das Wort Liebe ist ihm zu groß. Er kann nur sagen, dass er seiner Frau morgens den Tee ans Bett bringt. Dass sie dem Einhorn auf seiner Jacke ein neues Auge gestickt hat. … Wie will man wissen, was Wirklichkeit ist und Bewusstsein? Bruchstücke. Er denkt sich oft, dass nur das Unfertige, Halbe, Kleine stimmt.“