Dithmarscher Bauern

P1100501Vielleicht hat es damit zu tun, dass mein Leben zurzeit fremdbestimmter ist, als mir lieb ist. Vielleicht bin ich im Grunde meines Herzens ein schrecklich bodenständiger Typ. Jedenfalls zog es mich neulich mit Macht in die „freie Bauernrepublik Dithmarschen“ an der Schleswig-Holsteinischen Westküste. Nach Hemmingstedt, wo die Dithmarscher Bauern vor gut 500 Jahren die zahlenmäßig weit überlegenen Truppen des dänischen Königs Johann I. und seines Bruders Friedrich von Holstein mit einer List schlugen. Und auf den Geschlechterfriedhof von Lunden, der auch nur mit „freien Bauern“ und gar nichts damit zu tun hat, dass die Frauen womöglich links und die Männer rechts von der Kirche begraben worden wären. Und ich dachte an all die Dithmarscher Bauern, die mir im Rahmen von Biografieprojekten aus ihrem Leben erzählt haben. Einer von ihnen soll hier einfach mal selbst zu Wort kommen:

Morgens brauchten Hartmut und ich nicht zu helfen. Aber abends mussten wir mit ran: Rüben schneiden, Silo stechen, Heu- und Strohballen vorbereiten. Und manchmal mussten wir auch mit melken. Mit den Schweinen hatten wir nicht so viel zu tun. Das war uns auch ganz recht. Die Schweine stanken und waren laut. Um sie kümmerte sich unser Vater.

Wenn allerdings die Sauen ferkelten, waren mein Bruder und ich im Einsatz – nach einem fein abgestuften Preissystem: Ferkel, die bis 19 Uhr kamen, brachten 20 Pfennige, bis 23 Uhr gab es 50 Pfennig und ab 23 Uhr eine Mark. Das Geld zahlte Vater für jedes gesunde Ferkel, das Hartmut und ich als Geburtshelfer auf die Welt brachten. Wir mussten mit einer Schere die Nabelschnur durchtrennen und die Ferkel trockenreiben. Dann hieß es aufpassen, dass die Sau die Ferkel nicht im Geburtswahn biss oder sogar auffraß oder dass die Ferkel in der Gülle oder im Mist erstickten. Wir mussten schon aufpassen. Für umsonst gab es das Ferkelgeld nicht. Für umsonst gab es überhaupt nichts.

Für uns Kinder waren die Ferkelsauen eine wichtige Einnahmequelle. Und es war wie heute an der Börse: Man wusste nie genau, wie gehen die Kurse, kommen zwölf Ferkel oder nur drei. Ich kann mich an eine Sau erinnern, die sich ordentlich Zeit ließ. Von sieben Uhr an wartete ich, dass es endlich losgeht… Den Gewinn hatte ich mir schon ausgerechnet. Es wurde immer später und ich dachte: Das wird ein lukrativer Abend! Nach Mitternacht, und dann zehn Stück! Und dann kamen bis ein oder zwei Uhr nur drei Ferkel und danach nichts mehr. Ein Scheißjob war das! Was ausgehandelt war, galt schließlich. Nachverhandlungen oder Zuschläge gab es bei uns nicht.

In den 70ern kauften Hartmut und ich uns von unserem Konfirmationsgeld jeder einen Bullen. Der Viehhändler, den alle nur Asbach nannten, weil er gerne diesen Weinbrand trank, bot Bullenkälber für 600 Mark an. Hartmut und ich hatten uns das ausgerechnet: 600 Mark kostete ein Kalb. Ein, zwei Jahre später würden wir es für 2.000 Mark verkaufen. Das bedeutete 1.400 Mark Gewinn für jeden von uns. Wir kamen nach Hause und erzählten unserem Vater, dass wir zwei Kälber gekauft hatten, die in der nächsten Woche geliefert würden. Das fand er gut und meinte, nun müssten wir uns nur noch über das Futtergeld unterhalten.

Wir waren schockiert. Unsere Cousins hatten sich von ihrem Konfirmationsgeld ebenfalls Kälber gekauft und brauchten zu Hause kein Futtergeld zu zahlen. „Ja, wovon sollen die Kälber denn leben?“, fragte unser Vater nur. Das schmälerte den erwarteten Gewinn natürlich erheblich. Statt 1.400 waren nun nur noch 500 oder 600 Mark drin.

Eines Tages bat Vater den Tierarzt, einen Blick auf meinen Bullen zu werfen. Der Tierarzt erwiderte: „Wat, den Dotblieber schall ik mi noch ankieken?“ Ich war geschockt. Der Tierarzt schaute sich den Bullen dann doch an und konstatierte eine Lungenentzündung oder etwas in der Art, aber der „Dotblieber“ kam durch. Nach eineinhalb Jahren war es endlich soweit: Hartmut und ich wollten unsere Bullen verkaufen. Und jetzt drehte sich das Ganze. Vater hatte nämlich ein Auge auf meinen Bullen geworfen.

Hartmuts Bulle war nicht ganz so gut, der hatte sich mal ein Bein angebrochen. Aber mein Bulle war top. Vater wollte ihn als Deckbullen haben. Also verhandelten wir. Pro Kilo gab es, glaube ich, etwa eine Mark zwanzig. Ich wusste ungefähr, was ich erzielen wollte, und ich wusste, dass Vater den Bullen haben wollte. Das war für ihn eine schlechte Ausgangsposition, für mich eine gute. Wir waren relativ schnell durch, nach etwa einer halben Stunde hatten wir den Preis ausgehandelt, den ich haben wollte.

Und dann kam mein Bruder an die Reihe. Da ging das Handeln richtig los. Hartmut wollte natürlich den gleichen Preis erzielen wie ich. Diese Verhandlung dauerte wohl vier oder fünf Stunden. Hartmuts Hand sah hinterher aus! Bei jedem Hin oder Her wird ja kräftig eingeschlagen. Feuerrot war seine Hand. Kein Wunder bei der Pranke unseres Vaters. Immer wenn Vater einschlagen wollte, zuckte Hartmut ein kleines bisschen zurück. Wir hatten viel Spaß an dem Abend, auch wenn sich Hartmut ordentlich anstrengen musste für sein Geld. Es ging ja nicht einfach darum, sich gegenseitig in die Hand zu schlagen. Er musste schon Argumente bringen. Da entsteht ja auch eine Geschichte, da wird viel erzählt: Worüm schass den nehmen, worüm will ik denn ni nehmen, de is dat ni wert … Und so weiter.

Asbach, der Viehhändler, kam auch immer erst auf den Hof, wenn die Hauptarbeit erledigt war. Mutter war am Melken, Hartmut oder ich verteilten Stroh. Vater hatte eine Forke in der Hand. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, stützte sich auf den Griff der Forke und sprach mit Asbach. Dabei hauten sich die beiden ordentlich in die Hände. „Eene Mark twinig“, sagte Asbach. „Eene Mark süstig“, erwiderte Vater. Und dann wurde alles Mögliche erörtert: Wie geiht dat din Fru? Wat mokt Hermann? Wat is blots mit Hans los? Zwischendurch streute Vater ein paar Forken Stroh oder fütterte die Schweine. „Eene Mark fiefuntwintig“, bot Asbach an. Handschlag. „Eene Mark fiefunfofftig.“ Handschlag. So eine Szene konnte leicht eine oder auch eineinhalb Stunden dauern.

Ja, das Verhandeln habe ich von meinem Vater gelernt. Auf einem ägyptischen Basar habe ich diese Mentalität mal so richtig ausleben können, obwohl ich kein Wort Ägyptisch sprach und mein Gegenüber kein Englisch. Auf dem Basar habe ich verstanden, was Vater mit Asbach schon immer gelebt hatte: diese Geschichten, die sie sich erzählten, bei denen sie zwischendurch immer wieder aufs Geschäft kamen.

Hartmut hat damals übrigens den gleichen Preis für seinen Bullen erzielt wie ich. Dass das Ganze mit Risiko verbunden ist, hatten wir beide erlebt. Bei mir war es der „Dotblieber“, bei Hartmuts Bulle das lahme Bein. Das Risiko haben uns unsere Eltern nicht abgenommen. Es konnte sein, dass wir beide leer ausgingen. Es konnte aber auch sein, dass sich das Risiko, wie in meinem Fall, sehr gelohnt hat. Und Hartmut musste eben gut argumentieren, damit er den gleichen Preis erzielen konnte. Aber im Endeffekt war es so, dass für uns beide das Gleiche herauskam. Dafür hat unsere Mutter gesorgt.

33 Kommentare zu “Dithmarscher Bauern

    • Ein Hoch auf die Mütter, auf das Mütterliche in uns allen! Ob ich dir auf dem Basar so viel nützen würde, weiß ich nicht. Ich liebe Geschichten, aber zu feilschen ist mir immer ein bisschen unangenehm. Das müsstest du dann bitte übernehmen. 😉

    • Freut mich, liebes Stadtkind! Diese Mutter, das war wirklich eine Gute. Ihr Leben war oft nicht leicht, aber sie wusste es zu nehmen und hatte einen Blick für die schönen Momente.

  1. Liebe Maren, Dein wunderbarer Beitrag zeigt auch, dass man gar nicht nach Ägypten reisen muss, um festzustellen, dass das „Exotische“, das einem Fremde eigentlich direkt an der Küste im eigenen Heimatland liegt. Bitte mehr solcher Geschichten! Und: Ein wunderbares Bild dazu.

    • Da sprichst du wahre Worte sehr gelassen aus, liebe Birgit. Ja, gleich um die Ecke, direkt neben dem Vertrauten wartet oft eine Menge „Exotisches“ auf Entdeckung. Ägypten oder Dithmarschen? Das eine tun ohne das andere zu lassen würde ich sagen. 🙂

  2. eine schöne Geschichte, und Kühe, wie oben auf dem Foto, auf der Weide zu sehen, ist ebenfalls ein Geschenk. Den beiden Freundinnen scheint es gut zu gehen.

      • Aber Sarah Kirsch hat dort so lange gelebt;) und seit ich ihr Haus gesehen habe ist Dithmarschen ein Sehnsuchtsort geworden. Aber ich gebe dir recht. Unsere erste Begegnung in Tielenhemme war wirklich speziell……F

      • Oh, ich selbst mag Dithmarschen ja auch, diese Region, die zu 97 Prozent aus Himmel besteht, wie Sarah Kirsch so treffend und offensichtlich voller Liebe schrieb. Und Tielenhemme ist ja auch einer dieser historisch bedeutsamen Orte. Soweit ich weiß, fiel nach der Schlacht von Hemmingstedt 1500 die Burg von Tielenhemme an die siegreichen Dithmarscher. 😉

      • Ja, einerseits sehr ländlich, aber wir waren – weil keine Erwerbslandwirte – gleichzeitig immer etwas Außenseiter. Vielleicht gab es diese regelrecht gnadenlos klingende Welt bei den Nachbarn ja auch, aber das habe ich dann so nicht mitbekommen. (Am ehesten habe ich diese „Verwirtschaftung“ der Kindheit bei den Nachbarn daran mitbekommen, wenn sie für jede tote Feldmaus ein Kopfgeld bekommen haben.)

  3. Eine schöne Geschichte hat du da ausgegraben. Und das Bild erinnert mich irgendwie an unseren Urlaub in Friedrichskoog. Muss doch glatt mal schauen was sich da noch an Bildern versteckt.

    • Freut mich, dass dir die Geschichte gefällt. Und auf deine Bilder aus dem südlichen Dithmarschen bin ich gespannt. Meer und Watt seh ich mir nicht so schnell über. 😉

  4. Liebe Maren,
    ein wunderbares Bild zu Anfang, sind das die beiden Bullen aus der Geschichte?
    Die jedenfalls habe ich ein bisschen wie einen Krimi gelesen. Eine schöne, geradezu archaische Geschichte. Und ich glaube auch, dass solche Geschichten quasi überall spielen können. Ich war mal 10 Jahre lang Kulturdepp in einer kleinen schwäbischen Gemeinde bei Herrenberg. Da habe ich ähnliches erleben dürfen.
    Liebe Grüsse
    Kai

    • Nee, lieber Kai, das sind einfach zwei Kühe in meiner Lieblings-Norddeutschland-Haltung: Blick auf unendlich, Gedanken auf Null…
      Ja, ein bisschen archaisch mutet die Geschichte aus den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts tatsächlich an. Sie spielt unter schleswig-holsteinischen Kleinbauern, könnte sich aber sicher auch in einer kleinen schwäbischen Gemeinde zugetragen haben. Überhaupt denke ich, dass die Unterschiede zwischen Stadt und Land am Ende größer sind als die zwischen Nord und Süd. (Über deine Zeiten als „Kulturdepp“ versage ich mir jeden spekulativen Gedanken. ;-))
      Liebe Grüße!

  5. warum auch immer noch denke ich soeben zum zweiten mal an diesem Tag an Oscar Maria Grafs Buch: das Leben meiner Mutter …
    eine Geschichte, die Grenzen aufhebt, wenn es um Landmenschen überall auf der Welt geht, klar, auch da gibt es schwarze oder braune Schafe, aber das ist jetzt wirklich eine gaaanz andere Geschichte-
    danke für deine und die wunderbaren Kühe
    liebe Grüsse
    Ulli

    • Jetzt hast du mich aber neugierig gemacht, liebe Ulli. Von Oscar Maria Graf hatte ich bisher noch nie gehört, aber das könnte sich ändern. Mal schnell nach dem Titel gegoogelt, spontan an Tucholskys Gedicht „Mutterns Hände“ gedacht, auch daran, dass Dithmarschen eine frühe Hochburg des Nationalsozialismus war… So viel Geschichte, so viele Geschichten. Und dir einen lieben Gruß!

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