Zaunkönige wecken

P1080776Ein bisschen surreal fühlt es sich an, als wir uns der Stadt durch die Wüste nähern, die hier bis ans Meer reicht. Noch wabert ein Rest Morgennebel über dem endlosen Gelb. Fast jede Nacht, lese ich später, treibt der Wind Nebelbänke, die sich über dem kalten Benguelastrom weit draußen auf dem Atlantik bilden, über die Dünen ins Landesinnere. Manchmal bis zu 80 Kilometer weit. Meist lösen sich die Nebelschwaden im Laufe des Vormittags wieder auf.

P1080796Als wir gegen Mittag die Altstadt von Swakopmund erreichen, ficht gleißendes Sonnenlicht die letzte Schlacht des Tages gegen den Dunst, der sich bereits aufs Meer zurückgezogen hat. Das Gefühl des Unwirklichen will dennoch nicht weichen. All die wilhelminischen Giebel, all die Walmdächer, Jugendstilfassaden und Fachwerkbauten unter Palmen… unglaublich!

P1080790Altes Amtsgericht, Am Zoll, Schlachterei, Deutsche Oberschule lese ich auf den Gebäuden. Hundert Jahre ist die ehemalige kaiserliche Kolonie Deutsch-Südwestafrika nun schon Geschichte, aber in der vielleicht deutschesten Stadt südlich des Äquators pflegt man das Erbe.

P1080803Die alte Kaiser-Wilhelm-Straße wurde vor ein paar Jahren nach dem langjährigen Präsidenten und Gründungsvater der Republik Namibia in Sam Nujoma Avenue umbenannt, aber die Bismarckstraße gibt es bis heute. Dort steht eines der Wahrzeichen von Swakopmund: das Woermannhaus, Sitz der bedeutendsten Im- und Exportgesellschaft in Südwestafrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Schifffahrtslinie des Hamburger Kaufmanns und Reeders Adolph Woermann hatte schon 1894 den regelmäßigen Schiffsverkehr zwischen Europa und Afrika aufgenommen. Zwei Jahre zuvor hatte das deutsche Kanonenboot „SMS Hyäne“ nördlich der Mündung des Swakop eine mögliche Landestelle für die kaiserlichen Schiffe markiert – das 30 Kilometer weiter südlich gelegene Walvis Bay befand sich bereits in britischer Hand –, Swakopmund wurde gegründet. Nur einen Steinwurf vom Woermannhaus entfernt, an der ehemaligen Moltkestraße, steht das Hohenzollernhaus, das mit seiner neobarocken Fassade vielen als das prachtvollste Gebäude der Stadt gilt.

P1080793Im Café Anton an der Strandpromenade wird Apfelstrudel und Käsekuchen serviert. Beim Bäcker um die Ecke gibt es Schwarzbrot zu kaufen und in der Swakopmunder Buchhandlung deutschsprachige Bücher. Die Hansa Brauerei, die auf eine mehr als hundertjährige Tradition zurückblicken konnte, musste zwar 2005 ihre Pforten schließen, aber bis heute wird in Namibia nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut.

P1080815Zwischen ehemaliger Brauerei und Alter Kaserne springt mir die Fassade eines Gebäudes ins Auge, das ich kenne. Nicht in natura, ich war noch nie zuvor in Afrika, aber von Fotos und aus Erzählungen. „Es war Nacht, es war dunkel. Wer mich dorthin gebracht hat, weiß ich nicht mehr…“ Ursprünglich war das Prinzessin-Rupprecht-Heim als Lazarett für die Kaiserliche Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika errichtet worden. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde es zum Erholungsheim umgebaut und erhielt seinen Namen zu Ehren von Marie Gabriele, Ehefrau des Prinzen Rupprecht von Bayern. Außer als Erholungsheim wurde das Gebäude in den folgenden Jahrzehnten auch als Entbindungsheim sowie als Kinder- und Schülerheim genutzt.

P1080804Anfang der 1940er Jahre kam die damals vierjährige Frau L., die mir 70 Jahre später aus ihrem Leben in Südwestafrika erzählen sollte, in das Haus. Ihr Vater war, wie auch zahlreiche andere deutsche Südwester, in einem Lager zwischen Johannesburg und der Diamantenstadt Kimberley interniert worden, nachdem sich die Mandatsmacht Südafrika im September 1939 gegen die Neutralität des Landes und für die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg auf der Seite Großbritanniens entschieden hatte.

P1080809Heute ist das ehemalige Kinderheim ein Hotel. Natürlich dürfe ich mich umsehen, sagt die freundliche Dame an der Rezeption. Die Zimmer hinter den schweren Holztüren tragen die Namen süddeutscher Städte. Besonders schön ist es in dem großen innenhofartigen Garten hinter dem Haus. So grün. So still. Ganz hinten lächelt mich eine alte Dame im Rollstuhl an und fragt, ob ich mit zu den anderen kommen und die Zaunkönige füttern wolle. Und da sitzen sie, lauter alte Menschen in ihrer Welt. Für einen Moment schauen sie irritiert, als mit unserem Erscheinen die Vögel zu ihren Füßen auffliegen. Macht nichts, sagt die alte Dame, die kommen wieder.

P1080861Am nächsten Morgen ist die Stadt am Rande der Wüste abermals in atlantische Nebelschwaden gehüllt und ich frage mich, ob ich von der Begegnung mit den „Zaunkönigen“ womöglich nur geträumt habe. Später erfahre ich, dass das Hotel vorn und das Alten- und Pflegeheim im hinteren Trakt zusammen gehören.

P1080872Da haben wir Swakopmund bereits wieder verlassen, haben den Flamingos am Meer einen Besuch abgestattet und nur kurze Zeit später eine Kamel-Karawane getroffen…

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26 Kommentare zu “Zaunkönige wecken

  1. Mensch Maren, da hast Du ja eine Reise in eine ganz traumhafte Welt hinter Dir. Danke für die schönen Bilder. Meine Favoriten: die Flamingos, die Kamele und das Hohenzollernhaus. Toll!

    • Liebe Monni-Katze, ich kann dir sagen: auf dieser Reise gab es richtig viel zu entdecken. Deshalb schreibe ich jetzt auch so viel. Klar, dass dir besonders die Flamingos aufgefallen sind. Kann mir schon vorstellen, wie du am Ufer langrennst und mal kurz alle aufscheuchst… 😉

  2. Liebe Maren, beeindruckend – der Beitrag, deine Fotos und der Text. Aber vor allem: Wieviel Spuren deutscher Kolonialgeschichte dort noch zu sehen sind. Das hätte ich so nicht vermutet. Danke, dass Du uns auf solche Reisen mitnimmst…

    • Liebe Birgit, ich war auch sehr überrascht über das Ausmaß deutscher Kolonialgeschichte im Straßenbild. Ich vermute, das hat auch damit zu tun, dass Swakopmund aufgrund seines milden Klimas schon immer d i e Sommerfrische für die weißen Einwohner des Landes war (und bis heute ist). Freut mich, dass du auf der virtuellen Reise dabei bist!

      • Liebe Maren,
        Du erzählst einfach so gut von Deinen Reisen, man meint, man sei dabei…und bist aber auch immer respektvoll in deiner Annäherung an diese fremden Welten. Das schätze ich sehr. Und so reise ich gerne mit, zumal ich selbst gar nicht mehr den Freiraum habe, solche längeren Reisen unternehmen zu können…

      • Herzlichen Dank für dein feines Feedback, Birgit! Ich hoffe sehr, dass du dir irgendwann (wieder) mehr Raum zum Reisen schaffen kannst, wenn du das denn möchtest.

  3. Vielen Dank für den atmosphärischen Reisebericht mit seinen surreal-gespenstischen Landstrichen. Mir gefällt, wie die schwarze Bevölkerung sich ihrer Geschichte bemächtigt hat und die Gespenster der deutschen Kolonialherren in ihr Alltagsleben integriert hat. Mein Photo-Favorit ist „Moltke-Str.“

    • Die kleine Szene an der Ecke „Moltke-Str.“ hat mir auch gut gefallen. Dazu, was in Swakopmund aus welchen Gründen erhalten, geändert oder auch integriert wird, kann ich nicht wirklich fundiert etwas sagen, dazu waren wir zu kurz da. Ein nicht unwesentlicher Grund dafür, das koloniale Erbe im Stadtkern zu bewahren, ist aber sicher auch, dass es Touristen anzieht.

  4. Bizarr, äußerst bizarr und dazu die eindrucksvollen Nebelschwaden. Gibt es denn in Swakopmund auch afrikanisches Straßenleben oder ist das mehr eine Art Freilichtmuseum ?

    • In der Altstadt von Swakopmund kann man tatsächlich gelegentlich den Eindruck eines Freilichtmuseums bekommen. Viel mehr haben wir von der Stadt leider nicht gesehen. Die meisten Einwohner leben natürlich nicht im Zentrum, sondern in den Vororten, wo es – so vermute ich – auch viel (schwarz-)afrikanisches Straßenleben geben wird.

  5. Liebe Maren,
    das ist ja schon wieder so ein schöner Bericht! Ich bin auch sehr erstaunt über die doch hundertjährigen Beweise der deutschen Kolonialgeschichte – und wie sich manche Merkwürdigkeiten oder Besonderheiten so in einem Land festsetzen, dass sie so lange überleben: die Namen der Häuser und Straßen, das deutsche Reinheitsgebot beim Bierbrauen (das ist doch wirklich kurios :-)). Und wie leer die Straßen sind! So wenig Autos weit und breit, so wenig Fußgänger.
    Viele ganz beeindruckte Grüße, Claudia

    • Liebe Claudia, stimmt, voll war es nicht auf den Straßen, wenn auch nicht ganz so leer, wie man nach den Fotos annehmen muss. Ich war einfach so erstaunt über all die konservierte Architektur, auf der dankenswerter Weise oft drauf stand, was sich einst darin befand, dass ich mich sehr darauf konzentriert habe. Was das deutsche Reinheitsgebot beim Bierbrauen angeht: Ich bin keine Expertin, aber das scheint sich bewährt zu haben, man trifft es ja an den seltsamsten Orten dieser Welt an. Und das Windhoek Lager kann ich durchaus empfehlen. 😉

  6. Durch solche Gegenden zu fahren oder zu gehen ( vor allem Bild 1 und das Letzte )ist für mich paradiesisch! Vielen Dank, liebe Mara, für deine Bilder und Erzählungen zu deiner ganz speziellen Reise in Namibia.:) L.G.

      • Noch nicht ganz, aber natürlich wird es auch noch Bilder vom Sossusvlei zu sehen geben. Einstweilen halte ich mich mit Erinnerungen warm. Hier ist es eher herbstlich-ungemütlich. Dir einen hoffentlich sonnigen Restsonntag!

  7. Das hätte ich sehr gerne geschrieben: „… ficht gleißendes Sonnenlicht die letzte Schlacht des Tages gegen den Dunst …“ Toller Satz in einem tollen Bericht mit wunderbaren Fotos – vielen Dank!

  8. Schon ein kleines bisschen absurd, nicht wahr … deutsche Strassennamen in Namibia, manifestierte Geschichte …
    deine Bilder und dein text sind wieder einmal inspirierend und wohltuend, danke dafür und herzliche Sonntagsgrüsse vom Regenberg
    Ulli

    • Liebe Ulli, Im Grunde ist es ja sogar doppelt absurd: Die Häuser, die Straßennamen, die so sehr aus der Landschaft herausstechen, die sie umgibt, und zugleich wird da etwas bewahrt, das es bei uns auch gab, das hier aber dem Wandel der Zeit ganz anders unterworfen war. Ich freue mich, dass du so eine treue „Mitreisende“ bist. Grüße aus der Grauhimmelstadt auf den Regenberg!

  9. Liebe Maren,
    das ist ein wirklich toller Bericht über einen wahrhaftig sehr surrealen Ort in Absurdistan. Ich wusste zwar vom Hörensagen, dass das deutsch-koloniale in Swapokmund recht nachhaltig erhalten wird – aber dann Deine Bilder zu sehen, auf denen mitten in der Wüste das gute alte deutsche Spiessertum derart sauber aus dem Boden spriesst, das lässt mich schon leicht schaudern…
    Ich finde, das Surreale hast Du toll eingefangen, mit einem sehr informativen Text und tollen Bildern.
    Liebe Grüsse vom immer noch ein bisschen fassungslosen Kai

    • Freut mich sehr, dass dir der Beitrag gefallen hat, lieber Kai. Es fühlte sich schon recht eigenartig an, durch die Altstadt von Swakopmund zu spazieren. Gleichzeitig war es ungeheuer spannend, die Kolonialgeschichte wird ja dabei sehr greifbar. Ich habe mir im übrigen fest vorgenommen, beim nächsten Mal zum Vergleich auch ein paar Vororte zu besuchen. Herzliche Grüße!

  10. Manchmal ist es wirklich einen Blick auf die Verweise unter einem Blogartikel wert. Denn so bin ich bei diesem Eintrag gelandet, den ich im Sommer übersehen hatte. Und beschenkt von wie immer wunderbaren Fotos, spannenden Geschichten, eindrücklicher Stimmung und menschlichen Begegnungen. Und einem schönen Titel!

    • Lieber Holger, wie schön, dass die „Zaunkönige“ noch einmal zu Ehren kommen! Dein Lob freut mich sehr, ganz besonders, weil du ja selbst immer wieder eindrucksvolle Stimmungsbilder von deinen Spaziergängen und Wanderungen zauberst.

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